Wenn es Weihnachten nicht gäbe

Was würde uns fehlen, wenn es Weihnachten nicht gäbe?

Also der Stress und die Hektik der letzten Tage würden natürlich fehlen; auch dass man schon ab September Weihnachtsgebäck kaufen kann. Und natürlich die Lichter, die Weihnachtsmärkte und vor allem die Geschenke. Doch da könnte man wahrscheinlich Alternativen finden.

Aber die Frage, was uns fehlen würde, wenn es Weihnachten nicht gäbe, ist ja gar nicht so unberechtigt. Denn wir alle wissen: Die religiöse Bedeutung des Weihnachtsfestes schwindet, und zwar in den Industriegesellschaften rapide. Und wir Kirchenvertreter jammern dann über die Säkularisierung aller unserer Lebensverhältnisse und die Kommerzialisierung, die den religiösen Gehalt der Erinnerung an die Geburt Christi verdrängt haben. So als ob die Vorfreude auf das Fest und die Sehnsucht nach Licht und Wärme, nach Nähe und Begegnung, die die meisten Menschen an Weihnachten bestimmen, allein etwas Schlechtes wären. Und es geht sogar noch weiter:

Selbst unter Christen gibt es heute nicht wenige, bei denen die zentrale Überzeugung von Weihnachten schwindet, nämlich dass Gott wirklich Mensch geworden ist, dass Jesus „wahrer Mensch“ und „wahrer Gott“ ist, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, und nicht eben nur ein besonderer Mensch mit einer ganz brauchbaren Ethik. Im Großen Glaubensbekenntnis heißt es sogar, dass Gott „für uns Menschen und zu unserem Heil vom Himmel gekommen ist, Fleisch angenommen hat durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und Mensch geworden ist“. Dieser Aussage, so wie sie da steht, stimmt heute selbst unter Christen nur noch ein Teil voll und ganz zu. Und dennoch feiern sie Weihnachten.

Also ist die Frage, wozu es Weihnachten eigentlich gibt, wirklich nicht trivial. Die Menschwerdung Gottes, oder wie es noch abstrakter im heutigen Evangelium heißt, dass „das Wort Fleisch geworden“ ist, ist eine Vorstellung, die unter allen Religionen heute nur noch dem Christentum eigen ist. Da liegt doch die Frage nahe: Warum wurde Gott denn Mensch?

Seit frühester Zeit haben sich Menschen, und gerade die Christen, diese Frage gestellt, und sehr unterschiedlich beantwortet. Am bekanntesten und wirkmächtigsten wurde die Antwort, die im Mittelalter Anselm von Canterbury gegeben hat: Er dachte, dass Gott in Jesus nur deshalb Mensch wurde, damit dieser dann für unsere Sünden stirbt und damit unsere Schuld bei Gott begleicht, quasi als Satisfaktion für die Erbsünde: Ein unendlich großes Opfer für eine unendlich große Schuld.

Wieviele Menschen mögen wohl unter dieser Vorstellung zutiefst gelitten haben: der zürnende Gott, der sich nur versöhnen lässt durch dieses Opfer? Die Gegenfrage dazu lautete immer: Wäre denn dann Gott auch Mensch geworden, wenn es die Erbsünde nicht gäbe?

Die Antwort ist einfach: Ja. Denn Gott wurde Mensch aus reiner Liebe, aus Liebe zu uns, um sich uns ganz so zu zeigen, wie er wirklich ist. Jesus zeigt uns Gott, wie er wirklich ist. Dadurch, dass dieser Jesus von Nazareth geboren wurde, hat sich Gott uns endgültig zugewandt, mitgeteilt, geoffenbart. Das heutige Evangelium bringt es in die Formulierung: Der, der von Anfang an war, also vor aller Schöpfung, wurde wie wir. Genau wie wir. Das ist die Bedeutung von Weihnachten.

Es ist doch inzwischen eine theologische Binsenweisheit, dass die Geburtserzählung des Lukas-Evangeliums, die wie gestern Abend gehört haben, kein historischer Bericht ist oder so etwas wie eine Nachrichtenmeldung. Das gilt noch mehr für den Anfang des Johannes-Evangeliums, der heute die Lesung bestimmt. Hier geht es noch weniger darum, ob es sich historisch genau so zugetragen hat. Hier wird vielmehr in den Worten der damaligen Zeit eine Glaubensaussage zu verstehen gegeben. Und diese Glaubensüberzeugung, die Christen schon geprägt hat, lange bevor es das Weihnachtsfest überhaupt gab, das erst seit dem 4. Jahrhundert belegt ist, diese Glaubensüberzeugung besagt:

Gott ist nicht fern, irgendwo im Numinosen oder wo auch immer, nein, Gott ist einer von uns geworden, ein Mensch. Und dieser Jesus wurde nicht etwa von seinem Vater geopfert für die unendliche Schuld der Menschen, nein, er hat sich selbst erniedrigt und hingegeben aus Liebe, aus ganzer Liebe zu uns allen.

Der Sinn von Weihnachten ist also zu spüren: Gott ist bei uns, immer, überall, er ist da für uns, auch wenn wir ihn nicht sehen. Er wurde Mensch aus reiner Liebe, damit wir genauso lieben wir er, genau so bedingungslos für den Anderen da sind wir er. Und das gilt dann für alle, ausnahmslos; so schwierig das manchmal ist: Das gilt also auch für unsere Nachbarn, die uns nerven; für die Kollegen auf der Arbeit, die wichtiger sind als ich; für unsere Schwiegereltern, die wir nicht leiden können; für die blöden Autofahrer; die Politiker; für diejenigen, die sich verkaufen; für die Reichen; für alle gilt diese Liebe, derentwegen Gott Mensch wurde. Also auch für die Flüchtlinge im Mittelmeer; für die Obdachlosen und die Gefängnisinsassen hier bei uns; oder was in unserer Kirche besonders wichtig ist: für diejenigen, die gleichgeschlechtlich lieben oder die, deren Lebenspläne zerbrochen sind. Ihnen müssen wir gerecht werden. Denn ohne diese Liebe verdorrt der Mensch wie eine Traube an einem sterbenden Weinstock.

Wenn Gott wirklich diese bedingungslose Liebe ist, und nur aus Liebe in Jesus Mensch wurde, dann gilt doch weiterhin das schöne Wort, das mal ein alter Bischof gesagt hat: „Mach‘s wie Gott: Werde Mensch!“ Gott wurde Mensch, damit wir menschlich werden. Und das würde fehlen, wenn es Weihnachten nicht gäbe.

(Predigt am Hochfest der Geburt des Herrn, 25.12.2019, Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

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