Für die Opfer da sein

Wir Menschen neigen dazu, etwas, das wir sehr oft erleben, für weitestgehend normal zu halten. Es gibt verlässliche Studien darüber, dass zum Beispiel gerade Kinder, die oft und regelmäßig Gewalt erfahren, egal ob in der Familie oder anderswo, sich daran gewöhnen und dies als etwas zu akzeptieren lernen, das halt so ist. Dasselbe berichten Flüchtlinge, deren Familien es als etwas, das halt so sei, ansehen, wenn sie von der Hand in den Mund leben und ständig an wechselnden Orten leben müssen.

Eine solche Fluchterfahrung wurde uns auch im heutigen Evangelium vorgestellt. Josef stand in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter, weil sie der Verfolgung durch den Machthaber ausgesetzt waren. Und sie blieben in der Ferne, bis diejenigen, die dem Kind nach dem Leben trachteten, tot waren und sie sicher zurückkehren konnten.

Es ist müßig, ob sich diese Geschichte historisch genau so abgespielt hat oder nicht. Wichtig daran ist die Glaubensüberzeugung der frühen Christen, dass Jesus von Anfang an jemand war, der Machthaber so in Angst versetzte, dass sie ihn verfolgten und umbringen lassen wollten. Und als Kind wird sogar er diese Ereignisse als gegeben akzeptiert und sich dreingefunden haben, dass die Dinge halt so sind, wie sie sind.

Aber nichts, was so ist, muss so sein. Nichts! Weder Unterdrückung und Gewalt in der Familie müssen so sein, noch Flucht und Vertreibung. All dies machen wir Menschen in unserer Freiheit und – auch das gehört wohl dazu – unserer Anfälligkeit für das Böse. Schlimm, dass wir Menschen anscheinend so sind, dann sehr oft zu akzeptieren, dass es halt so ist.

Ich musste mich beruflich ab 2010 in meiner damaligen Tätigkeit sehr intensiv mit dem Leid von Missbrauchsopfern beschäftigen. Deren Erfahrungen, gerade auch in unserer Kirche, zeigten ganz Ähnliches. Sie berichteten, wenn sie anderen von der Gewalt, die sie erfahren hatten, erzählten, hätten sie oft Schulterzucken geerntet und: dass das halt so gewesen sei und man es am besten vergessen und wegstecken solle. Man müsse ja weiterleben. Und was noch schlimmer ist: Sie selbst hätten sich – gerade als Kinder – mit der Zeit daran gewöhnt, dass dies halt so sei, wenn sie Misshandlung erfuhren. Aber nirgendwo, schon gar nicht in der Kirche, gibt es dafür irgendeine Legitimität. Niemals ist Misshandlung, in welcher Form auch immer, zu akzeptieren. Nie!

Deshalb muss all dies Leid auch aufgearbeitet werden. Viele der Opfer, mit denen ich damals gesprochen habe, sagten mir: Zum ersten Mal höre jemand zu und nehme ernst, was sie erlitten hätten. Deshalb darf es hier kein Unter-den-Tisch-Kehren geben. Genauso wichtig aber ist, dass es gar nicht soweit kommt. Gestern war das Fest der Unschuldigen Kinder. Heute das Fest der Heiligen Familie. Beides steht in unmittelbarem Zusammenhang.

Wir dürfen das Böse nicht tolerieren. Wenn wir also gerade den Satz aus dem Kolosser-Brief gehört haben: „Liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält“, dann heißt das nicht, akzeptiert das Unrecht, und schon gar nicht, toleriert das Böse. Nein! Das heißt vielmehr: Behandeln wir jede und jeden immer als von Gott Geliebte, deren Rechte wir zu schützen haben, zu allererst die Notleidenden. Für sie dazu sein, so wie es (der dann erwachsene) Jesus war, für die Anderen ganz dazu sein: Das ist es, was Gott von uns will.

(Predigt am Fest der Heiligen Familie, 29.12.2019, St. Hildegard, Berlin-Frohnau sowie Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

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