Sehend werden

Jesus heilt einen Blinden. Wie so oft wird uns im Evangelium vom heutigen Sonntag eine Heilungsgeschichte erzählt. Darin macht Jesus einen Mann, der von Geburt an blind war, sehend. Ein Wunder, würden wir sagen, und wir können uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das in einem Menschen auslöst. Erst wenn man einmal den Bericht von jemand gehört hat, der durch medizinische Hilfe nach langer Zeit oder sogar zum ersten Mal sehen kann, und solche Berichte gibt es, erst dann bekommen wir eine Ahnung von dieser umstürzenden Heilung. Denn sehen können gehört zum Wichtigsten in unserem Leben – so wie das Hören und Fühlen. Ohne unsere Sinne sind wir hilflos und einsam. Jesus heilt. Aber nicht nur im medizinischen Sinn, und ich finde es immer wieder müßig, sich auf die Frage zu beschränken, ob sich diese Erzählung des Johannes-Evangeliums denn historisch nun wirklich so abgespielt habe oder nicht.

Christus heilt in einem viel umfassenderen Sinn. Er sagt von sich: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 9,5), ein Licht, das alle Blinden sehen machen kann (vgl. Joh 9,39), eben nicht nur im medizinischen Sinn, sondern in ihrem ganzen Menschsein.

Wenn wir, wie der Blinde im Johannes-Evangelium, diesem Licht begegnen, Christus in unserem Leben wirklich begegnen, dann verändert das alles, dann müssen wir nämlich Menschen sein, die hinsehen auf das, was ist. Dann müssen wir die Zeichen der Zeit erkennen und dürfen uns nicht hinter dem verstecken, was vermeintlich immer schon galt. Denn Gott braucht Menschen, die sehen, die hinschauen, nicht wegschauen oder herabschauen auf andere, die offene Augen haben für das, was Not tut. Wie oft sind wir blind für die Notleidenden, wie oft schauen wir auf andere herab? „Lebt als Kinder des Lichts“, sagt uns die heutige zweite Lesung, der Epheserbrief. Gerade jetzt, in dieser Zeit der Not, kommt es darauf an, dass wir selber Licht für andere sind, für andere da sind, ihre Not teilen und sehen, was die Stunde geschlagen hat.

 

(Geistlicher Tagesimpuls zum 4. Fastensonntag, 22.3.2020, „Laetare“)

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