Blinde Flecken

Im Erzbistum Köln gibt es einen Pastoralreferenten, Peter Otten, ein sehr kluger Mensch, wie ich finde, und vor allem ein sehr einfühlsamer. Er hat diese Woche einen kurzen Artikel über Fronleichnam geschrieben. Ich zitiere:

Im Jahr 1209 blickte die Lüttcher Nonne Juliana träumend in den Himmel. Und sah den Mond. Der aber war an einer Stelle verdunkelt, weiß die Legende. Juliana deutete den dunklen Fleck als einen blinden Fleck, als etwas, das sie in der Kirche vermisste. Etwas, das die Kirche zu wenig im Blick hatte: die Bedeutung der Eucharistie.

Ihr Deuten auf den blinden Fleck hat zu einem Fest geführt, in dem die Eucharistie gefeiert wird. Es sollte zwar noch knapp vierzig Jahre dauern. Der Bischof von Lüttich feierte 1246 zum ersten Mal das Fest, das 1264 ein weltkirchliches wurde: Fronleichnam.

Das, was vermisst wird, zum Fest machen. Sich den blinden Fleck anschauen und ihn ins Zentrum stellen. Spüren, dass etwas fehlt. Sehnsucht nach etwas Neuem, das in ein Fest mündet. Eigentlich ein unglaublich kluger Scoop. Zutiefst jesuanisch – und aktuell noch dazu. Denn auch im Jahr 2020 gibt es viele, viele Menschen, die wie Juliana von Lüttich prophetisch in den Himmel der Kirche blicken und blinde Flecken entdecken.

Opfer sexueller Gewalt in der Kirchevermissen, dass Bischöfe sich zu ihrer persönlichen Verantwortung bei der Vertuschung von Verbrechen sexueller Gewalt bekennen und sagen: Ich wars. Ein blinder Fleck. Neben konsequenter Aufarbeitung dieser Verbrechen vermissen sie auch eine finanzielle Entschädigung für das, was sie erlitten haben. Ein blinder Fleck. Frauen vermissen die konsequente Gleichberechtigung der Geschlechter in der Kirche – in allen Ämtern und auf allen Ebenen. Ein blinder Fleck. Menschen erklären ihren Austritt aus der Kirche und vermissen, dass sie vermisst werden. Ein blinder Fleck.

Johanna von Lüttich musste fast 40 Jahre baggern, bis ihr Vermissen bischöfliches Gehör fand. Ans Baggern sind Frauen in der Kirche ja gewöhnt. Und erst rund 600 Jahre nach ihrem Tod wurde die, die in ihrer Kirche etwas vermisst hatte, heiliggesprochen. Doch welch wunderbare Kirche wäre das, in der all diejenigen, die in ihr etwas vermissen, nicht die Störenfriede, sondern die Heiligen sind? Nicht in 600 Jahren, sondern sofort? Santo subito? Man wird doch noch träumen dürfen.“ (https://www.katholisch.de/artikel/25783-blinde-flecke-in-der-kirche-gibt-es-zu-viel-das-man-vermisst) Soweit Peter Otten.

Das Symbol des blinden Flecks, ein schönes Bild, finde ich! Wie viele vermissen so viel in der Kirche? Peter Otten hat einige markante Beispiele angeführt, andere ließen sich hinzufügen.

Auch die Eucharistie haben viele in den letzten Monaten vermisst, viele schmerzlich vermisst.

Eucharistie heißt auf Deutsch Danksagung. Wir danken Gott, dass er da ist, hier und jetzt, dass er bei uns ist,  in seinem Geist, in den Gestalten von Brot und Wein; dass er immer bei uns ist. Heute können wir hier gemeinsam danken als Gemeinde Gottes, denn Kirche heißt ja nichts anderes als: die zum Herrn gehören; als diejenigen, die daran glauben, dass sie sich ihm verdanken, und nicht allein sich selbst. Wir brauchen diese Gemeinschaft, diesen gemeinsamen Dank, um zu erkennen: Wir laufen nicht einsam und allein durchs Leben. Wir sind begleitet. Unser ganzes Leben lang sind wir getragen von Beziehungen, unseren Beziehungen zu den Nächsten und unserer Beziehung zum ewigen Du. Wir leben aus diesen Beziehungen.

Im Evangelium sagt uns Jesus, dass er für uns „das lebendige Brot“ ist. Die Beziehung zu ihm ist für uns Quelle des Lebens.

Aber Jesus sagt uns auch: „Geht und handelt genauso!“ Werdet selbst ebenso – quasi – zum Brot für Andere!

Und wie machen wir das? Natürlich indem wir Gott in der Eucharistie anbeten, verstummend anbeten. Was könnten wir auch anderes tun in seinem Angesicht?

Aber doch vor allem, indem wir auf seine Liebe antworten, auf Gottes Liebe antworten.

Jede und Jeder kann die eigene Antwort finden. Aber auf Liebe kann man nur mit Liebe antworten. Liebe zu Gott und Liebe zum Du. Und zwar ganz konkret: Wir können auf die Liebe Gottes antworten, indem wir die Gemeinschaft, die Beziehung, die Communio mit ihm, dem lebendigen Brot, pflegen.

Aber genauso, indem wir diejenigen, die für uns „Du“ sind, wirklich wahrnehmen, ihnen begegnen, ganz für sie da sind, unsere „Nächsten lieben wie uns selbst“, all‘ diejenigen, die so oft für uns blinde Flecken sind: die Opfer, die Gefangenen, die Notleidenden, die Armen.

Feiern wir also Eucharistie und sagen gemeinsam Danke dafür, dass wir immer und überall begleitet sind von diesem Du, der uns mit seiner Liebe, mit seinem Geist und im lebendigen Brot immer schon entgegenkommt! Und danken wir ihm, dass wir ihm nachfolgen können, ganz einfach, indem wir für die Anderen ganz da sind, so wie er für uns!

Das würde vielleicht auch so manchen blinden Fleck erhellen.

 

(Predigt zu Fronleichnam am Samstag, 13.6.2020, in Christkönig, Berlin-Lübars, und am Sonntag, 14.6.2020, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf, und St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

(Bild: ©️ Luc Viatour / https://Lucnix.be)

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