Thomas – unser Zwilling

Evangelium

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Wir Menschen brauchen Vertrauen. Ohne Vertrauen könnten wir morgens nicht einmal aus dem Bett aufstehen; ohne Vertrauen, dass der Wecker auch wirklich klingelt, wenn wir ihn gestellt haben; ohne Vertrauen, dass der Boden, auf dem wir stehen, auch wirklich hält; ohne Vertrauen, dass die Sonne jeden Morgen wieder aufgeht.

Das klingt banal, aber es ist so. In den allermeisten Momenten unseres Lebens vertrauen wir einfach, dass die Dinge so sind, wie sie uns erscheinen. Nur mit diesem Grundvertrauen können wir unseren Alltag überhaupt bestehen. Denn wir wissen, wie tragisch es ist, wenn dieses Grundvertrauen gestört ist, wenn durch Krankheit oder traumatische Erfahrungen eben dieses Grundvertrauen nicht da ist. Nicht einmal aus dem Bett kommt man dann; nicht einmal die einfachsten Lebensvollzüge gelingen dann.
Erst recht gilt das in unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Wenn nicht ein Mindestmaß an Grundvertrauen gegeben ist, dass es die Anderen schon gut meinen mit einem; dass man dem, was sie sagen, grundsätzlich erst einmal vertrauen kann. Wenn wir das nicht schon als Kinder gelernt haben, wird unser ganzes Leben davon geprägt sein. Am meisten geht es uns so: in der Liebe zu einem Menschen. Wir müssen einfach vertrauen können, dass es wahr ist, wenn jemand zu uns sagt: „Ich liebe Dich.“ Denn einen wissenschaftlichen Beweis dafür haben wir nicht. Den werden wir nie haben. Wir haben nur die Worte: „Ich liebe Dich“, und vielleicht noch ein paar Bespiele des Wohl-wollens des Anderen; wir sagen dazu sogar: Beweise der Liebe, der Zuneigung, der Zärtlichkeit. Aber wirklich beweisen, können wir es nicht. Letztlich haben wir nur das Wort, auf das wir uns verlassen. Und wie oft zweifeln an dem, was andere sagen? Diese Zweifel sind ja auch völlig natürlich. Nur ganz wenige Menschen sind von ihnen verschont, und die halten wir dann oft für einfältig und vertrauensselig. Denn wie oft wurden wir in unserem Leben schon enttäuscht. Wie oft haben wir zu schnell vertraut?
Ich muss jetzt gar wieder das Beispiel der Liebe bemühen. Es geht viel einfacher: Wie viele Nachrichten, die wir so hören oder lesen, stellen sich als unwahr heraus. Wir erleben es gerade wieder im Terror in der Ukraine. Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Wahrheit, heißt es; und das stimmt.
Oder wir erleben es auch in unserer Kirche: Wie viele Menschen fühlen, dass ihr Vertrauen in unsere Kirche auf‘s Schändlichste missbraucht wurde durch die unzähligen Fälle von Gewalt und besonders sexualisierter Gewalt.
Wir brauchen die Wahrheit; ohne dieses Verlangen nach Wahrheit nützt der ganze Katechismus nichts, selbst wenn wir ihn auswendig aufsagen können (1) Hier gilt, genauso wie in der Politik oder wie im alltäglichen Leben: Ist erstmal das Vertrauen weg, ist alles weg. Es wiederzuerlangen, gehört zum Schwersten, das es gibt.

Genauso geht es dem Thomas im heutigen Evangelium. Wir nehmen Thomas ja immer als Sinnbild für den intellektuellen Zweifler, für den Typ Wissenschaftler und Rationalisten, der einen klaren empirischen Beweis braucht, um glauben zu können. Aber dieser Thomas ist im Grunde doch ein ganz normaler Mensch – wie wir.
Er hat erlebt, dass alle seine Hoffnungen, alle seine Träume am Kreuz gescheitert sind. Er ist mit Jesus durchs Land gezogen und glaubte an ihn; ja, er liebte ihn vielleicht sogar. Jedenfalls war er – wie die Jünger insgesamt – davon überzeugt: Dieser Jesus bringt die Befreiung, bringt die Erlösung, bringt die so ersehnte Rettung, den Frieden. Und dann: der Tod am Kreuz. Alles gescheitert! Im schändlichsten Tod, der damals vorstellbar war. Alles aus!

Diesem Thomas erzählen sie nun: Der Herr lebt. Wir haben ihn gesehen. Er ist zu uns gekommen. Ist es nicht völlig normal, wie Thomas reagiert? Wir würden doch genauso reagieren.

Thomas ist unser Zwilling. Nicht nur dass der Name eben „Zwilling“ bedeutet. Er ist es. Er verhält sich so, wie wir uns verhalten würden.
Und dann kommt der Auferstandene auch in sein Leben. Christus spricht ihn an; er bietet ihm sogar an, die Wunden zu sehen, ja anzufassen. Aber das braucht es dann gar nicht mehr. Denn dass Thomas die Wunden wirklich berührt, das steht da nicht. Thomas kann allein dadurch, dass Christus ihn anspricht, wieder vertrauen. Er erkennt, dieser ist „mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28).

Wenn wir heute – wie immer am Sonntag nach Ostern – diese Thomas-Episode hören, können wir erkennen: Das, was hier erzählt wird, ist eigentlich unsere Geschichte. Wir sind wie dieser Thomas. Denn zu glauben, heißt ja nicht: einfach nur zu vermuten, es könnte so sein, aber es könnte auch anders sein. Glauben hat nichts mit vermuten zu tun. Glauben heißt: jemandem Vertrauen. Den Worten, die jemand zu mir sagt, Vertrauen schenken, wie bei einem geliebten Menschen. Zu glauben heißt: zu vertrauen; darauf zu setzen, dass wahr ist, was der Herr hier sagt, und darauf ganz und gar das eigene Leben zu setzen – und den eigenen Tod.

Ich weiß, wie schwer das ist: Dieses Vertrauen aufzubringen gegen alle Zweifel; gegen alles, was dagegenspricht; dass wirklich wahr ist, was uns Jesus da sagt: Ich bin es wirklich. Ich bleibe bei euch. Ich bin da für euch. Immer! Thomas ist unser Zwilling.

(Predigt am 2. Sonntag der Osterzeit, 24.4.2022, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

(1) vgl. Martin Dürnberger, zitiert nach: https://lebendig-akademisch.podigee.io/84-basics1

Bild: Caravaggio, Der ungläubige Thomas, Potsdam, Gemäldegalerie Sanssouci. Foto: privat

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