Nichts kann uns von der Liebe Christi trennen!

Evangelium

Lesung

Das Jahr geht zu Ende; und viele, sehr viele werden sagen: Gut so! Gut, dass dieses Jahr vorüber ist! Es war ja auch zum Verzweifeln:

Noch immer die Folgen der Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, Hunger und Elend weltweit – und hier bei uns die höchsten Preissteigerungen seit 70 Jahren; Angst vor Energieknappheit. Oder dass in diesem Jahr erstmals mehr als 2 Mio. Menschen in Deutschland auf die Tafeln angewiesen waren und über 260.000 Menschen wohnungslos – hier bei uns. Schier zum Verzweifeln! Und im Persönlichen, Privaten: Wie viele haben einen lieben Menschen verloren, wie viele Beziehungen sind zerbrochen, wie viele Familien zerstritten?

Da hilft es auch nur wenig, dass es uns hier ja noch sehr gut geht im Vergleich eben zu den Menschen in der Ukraine zum Beispiel oder zu vielen anderen Orten in der Welt, wo die Not so viel größer ist, wo die Menschen so viel mehr verzweifeln mögen.

Bundeskanzler Scholz sprach im Februar von einer „Zeitenwende“; und er meinte die politischen Folgen von Putins Überfall. Den Begriff „Zeitenwende“ finde ich ein bisschen hochgegriffen, aber sei’s drum. Wir erlebten dieses Jahr Dinge, die wir vorher für unmöglich hielten, oder wenigstens hatten wir sie erfolgreich ausgeblendet. Wir wähnten uns sicher in unserem bürgerlichen Wohlstand hier und dass das immer so weitergehen wird.

Auch in den Kirchen war dieses Jahr schier zum Verzweifeln: Noch nie gab es so viele Kirchenaustritte wie in diesem Jahr, und es hört nicht auf mit den Missbrauchstaten, die ans Licht kommen, mit der Vertuschung, mit der Lüge. Das öffentliche Ansehen – mindestens der katholischen Kirche – ist ganz unten. Da hilft es der evangelischen Kirche leider auch nicht, wie der Präses im Rheinland zu sagen, man werde „in Mithaftung“ genommen (vgl. Rhein. Post, 19.12.22). Und auch der synodale Weg wird wenig helfen, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen.

Aber geht es darum überhaupt? Geht es nur ums öffentliche Ansehen, um Relevanzverlust, um Reputation? Wie viele fragen sich heute: Wozu braucht es eigentlich noch die Kirchen? Wozu noch den Glauben an den dreifaltigen Gott. Wozu all die romantischen Erzählungen von Weihnachten, dem Stall, den Engeln, dem Gloria? Angesichts all dessen, worüber man nur verzweifeln kann.

Als ich jung war, da gab es den Liedermacher Stephan Sulke. Den gibt’s auch heute noch, aber nur wenigen kennen ihn heute noch. Der sang damals in den 70ern in einem Lied: „Du lieber Gott, komm doch mal runter und schau Dir die Bescherung selber an. Du lieber Gott, komm doch mal runter; ich schwör Dir, dass man hier verzweifeln kann“ (© Stephan Sulke, zit. nach: https://stephansulke.com/stephan-sulke-1-2/).

Ja, recht hat er, werden viele denken. Aber, mal abgesehen davon, dass da ein ziemlich kindliches Gottesbild drinsteckt, hat Stephan Sulke dabei doch eins vergessen: Gott ist schon unten. Er ist schon runtergekommen. Er ist ganz unten; hier, wo wir sind. Das, was wir an Weihnachten wirklich feiern, neben all‘ den romantischen Bildern vom Kind in der Krippe, ist eben, dass Gott, der unendliche, der ewige, nicht bloß der jenseitige ist, nicht irgendwo nebulös als anonyme Macht außerhalb von Raum und Zeit. Wir glauben an einen Gott, der sich klein macht, verletzlich, quasi auf Babylänge verkürzt, der hier mitten unter uns sein will, der für uns da ist, und der uns nie verlässt. Und warum?

Aus purer Liebe; weil Gott nichts anderes ist als Liebe, nichts anderes will als Lieben, und dass dies so ist, das feiern wir an Weihnachten. Gott wird Mensch: aus Liebe, einzig aus Liebe – zu uns, zu seinen Geschöpfen, zu jeder und jedem von uns, ausnahmslos. Und das hat Folgen.

Der frühere Papst Benedikt XVI., der heute verstorben ist, schrieb einmal: Wir können diese Menschwerdung nur verstehen, wenn wir sie als einen neuen Anfang für uns nehmen, als eine „neue Weise des Menschseins“ (vgl. Jesus von Nazareth, Prolog. Die Kindheitsgeschichten, 2012, S. 22).

Das kann uns in dem Kind Jesus klar werden, und in seinem Weg der Hingabe; der Liebe, und deshalb hat Stephan Sulke bei aller Verehrung eben nicht ganz recht: Es ist hier „unten“ eben nicht nur zum Verzweifeln, egal wie erbärmlich so vieles auch sein mag.

Das heißt nicht, die Probleme klein zu reden. Im Gegenteil! Es heißt, gerade die Augen zu öffnen und all das, was nicht richtig ist, wahrzunehmen und offen auszusprechen, und endlich an die unzähligen Opfer zu denken, und nicht nur an sich selbst, nicht an das eigene Wohl, an das Wohl der Kirche zum Beispiel. Die Zeitenwende ist nämlich nicht erst im letzten Februar geschehen. Sie geschah bereits vor mehr als 2000 Jahren, und sie geschieht immer wieder, wenn wir erkennen, dass wir Jesus auf seinem Weg folgen können, dass wir uns durch ihn verwandeln lassen können, dass wir auf seinen Weg machen können. Wir müssen nur in das Abenteuer der Suche nach der Begegnung mit ihm eintreten und in das Sich-Suchen-Lassen von Gott, das Sich-Begegnen-Lassen mit Gott.

So wie Papst Franziskus sagt: „Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person.“ (zit. nach: Tomas Halik, Nachmittag des Christentums, 2022, S. 7). Wir müssen nur dieser Liebe vertrauen, und ich weiß, wie schwer das ist; ihr unser Herz öffnen, und ihn aufnehmen, wie es eben im Evangelium hieß, uns von ihm beschenken lassen, „von der leisen Stimme Gottes ansprechen lassen, von seiner verborgenen Gegenwart erfüllen lassen, … und von seiner unermüdlichen Geduld stärken lassen …“. Und so: da sein; da-sein für andere. So, wie er es tat.

Denn Liebe ist ja nicht so sehr ein schönes Gefühl. Es ist das Wohl-wollen für die Anderen, (auch wenn die nicht so sind, wie ich sie mir wünschen würde); Da-sein für die Anderen.

Und das sollten gerade wir als christliche Kirchen wieder lernen, wo wir es (dieses Jahr und auch sonst) vergessen haben. Dietrich Bonhoeffer sagte das: „Die Kirche ist nur Kirche, wo sie für andere da ist“ (Widerstand und Ergebung, DBW 8, 560). Wo wir das vergessen, da nützen uns die heiligsten Lieder nichts, die frömmsten Gebete, der schönste Ritus.

Ja, Angst und Verzweiflung prägen unsere Welt; gerade in diesem Jahr war das so. Aber wir haben es in der heutigen Lesung gehört: „Was kann uns trennen von der Liebe Christi? Angst oder Hunger oder Gefahr oder Verzweiflung?“ (vgl. Röm 8) Nein! Nichts kann uns von dieser Liebe trennen. Gar nichts.

Nichts kann uns trennen von der Liebe Christi, von Gottes Liebe. Gott ist bei uns. Hier bei uns. Stellt euch vor, wir könnten „jeden Moment als einen Moment erleben, der voll mit neuem Leben ist! Stellt euch vor, wir könnten jeden Tag als einen Tag voller Verheißungen erleben! Stellt Euch vor, wir könnten durch das neue Jahr gehen und immer auf die Stimme hören, die zu uns sagt: Ich habe ein Geschenk für Dich und kann es kaum erwarten, dass Du es siehst!” (Henri Nouwen)

Dass Gott uns sagt, dieses Geschenk ist meine Liebe. Du bist geliebt. Egal, was dir hundertmal am Tag gesagt wird, egal was du von Dir selbst hältst und andere von Dir halten. Du bist geliebt. Immer. Und ich werde Dich nicht verlassen, egal was passiert. Denn nichts, aber auch gar nichts kann uns von dieser Liebe trennen.

(Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zum Altjahrsabend am 31.12.2022, Apostel-Paulus-Kirche, Berlin-Hermsdorf)

Bild: privat

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