Unterwegs nach Emmaus

Evangelium

Noch einmal hören wir heute die schöne Erzählung vom Gang nach Emmaus und die Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen. Alle Evangelien an den Sonntagen nach Ostern beschreiben ja Begegnungen mit dem Auferstandenen: am Ostertag Maria Magdalena, letzten Sonntag dann die Apostel und vor allem Thomas, der erst durch diese Begegnung glauben kann, und heute die Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Sie alle begegnen dem Auferstandenen.

Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagt uns Martin Buber. So ist es. Wirkliches Leben kann sich nicht im Allein-Sein vollziehen, in der Vereinzelung. Wir Menschen brauchen einander, um zu leben: Maria Magdalena, Thomas, die Apostel, die Emmaus-Jünger: Sie alle begegnen dem auferstandenen Christus – leibhaftig. Sie spüren nicht nur: Er ist da. Sie erkennen ihn; nicht immer sofort; hier z. B. erst, wenn er ihnen die Worte der Schrift deutet und das Brot mit ihnen teilt. Aber immer ist das Ergebnis: Die Jüngerinnen u. Jünger wissen: Er ist da. Er ist bei ihnen. Er lebt.

Die antiken Griechen kannten zwei Wörter für das, was wir „Leben“ nennen: biós und zoé, und hier ist immer von zoé die Rede, vom Leben, das kein Ende kennt, das nicht biologisch vergeht. Wir im Deutschen haben leider nur ein Wort dafür: „leben“, und wenn wir das „Leben in Gott“, „in der Gegenwart Gottes“, „das Leben der Auferstehung“ meinen, dann müssen wir es umschreiben. Dann sagen wir: Die Fülle des Lebens, das ewige Leben, das Reich Gottes.

Wir heute sehen Christus nicht. Denn nur die Wenigsten heute haben das Privileg, dass ihnen Christus so erscheint wie den Jüngerinnen und Jüngern. Zu Recht ist die Kirche auch sehr restriktiv in der Anerkennung von solchen Privatoffenbarungen. Die allermeisten von uns sind darauf angewiesen, zu glauben, was sie hören.

Aber der Glaube kommt ja bekanntlich vom Hören (vgl. Röm 10,7). Die Gemeinschaft mit Christus kommt vom Wort, das er uns zusagt, und vom Brot, das er mit uns teilt. Eigentlich genauso wie bei den Jüngern in Emmaus. Und nur aus diesem Hören auf sein Wort, glauben wir: Er ist auch heute bei uns, bei allen Menschen. Er bleibt bei uns, auch wenn es Abend wird. Ich weiß, das klingt dürftig, aber mehr haben wir nicht. Heute verlassen wir uns vornehmlich aufs Sehen. Wir glauben im Allgemeinen nur, was wir sehen. Da ist der Apostel Thomas wirklich unser Zwilling – gerade heute. Nur aufs bloße Wort hin zu vertrauen, fällt im Allgemeinen sehr schwer.

Das ist auch verständlich. Denn wie oft werden wir enttäuscht durch Worte, ja betrogen, wie oft wird unser Vertrauen missbraucht durch das, was andere als Wahrheit ausgeben? Ist das Vertrauen verspielt, ist alles verspielt. Wenn wir einem Menschen nicht mehr glauben können, ist eigentlich alles zerstört. Wie schwer fällt es deshalb heute so vielen gerade den Worten der Kirche zu glauben nach allem, was geschehen ist, was an Lüge und Vertuschung ans Licht gekommen ist?

Letzte Woche wurde in der Erzdiözese Freiburg der erste Bericht zu Missbrauchs-Taten vorgestellt, und wieder, genau wie hier in Berlin und anderswo, sind es unfassbare Zahlen und unfassbare Schilderungen von schmerzlichen Details, die man eigentlich gar nicht wissen möchte. Auch hier in Berlin kam diese Woche wieder Schreckliches ans Licht, und wieder sagen die Verantwortlichen in schon einer bemitleidenswerten Hilflosigkeit: Es tut uns leid, und es soll nicht mehr vorkommen. Und es wird auch alles dafür getan, dass so etwas nicht mehr vorkommt. Doch schon 2010, als die Aufklärung ihren Anfang nahm nach der Aufdeckung durch Klaus Martes am Canisius-Kolleg sagten alle: Wir sind betroffen, und so etwas darf nie mehr geschehen. Aber wenn es dann in die Hunderte u. Tausende von Fällen geht, und wenn immer wieder Neues ans Licht kommt, und wenn Bischöfe, denen so viele vertrauten und vertrauen, als notorische Lügner enttarnt werden, dann wird das Vertrauen eben zerstört; das Vertrauen in die Kirche als Institution. Wie soll man dann noch glauben?

Ich bin fest davon überzeugt, dass es dem Wesen der Kirche nicht genügt, wenn sie sich, wie vor allem in den letzten Jahrhunderten, in einer besonderen Weise als Rechtsinstanz, versteht, als Staat im Staat quasi, mit eigenen Gesetzen und eigenem Recht. Wenn aber dann aufgedeckt wird, dass ein Bischof, der sonst peinlich genau auf das Einhalten der rechtlichen Vorschriften gepocht hat, selbst massiv gegen eben dieses kirchliches Recht verstoßen hat, gegen schon damals geltendes Recht, indem er Missbrauchstaten einfach nicht nach Rom meldet, sondern vertuscht, wenn sich ein Bischof also gewissermaßen aussucht, an welche Rechtsnormen er selbst sich hält oder nicht, dann zeigt das nicht nur die persönliche Schuld und vielleicht Tragik, sondern ebenso, wie brüchig dieses Rechtssystem ist und vor allem das Vertrauen in es. Das Vertrauen in die institutionelle Form unserer Kirche ist für so viele zerstört. Und auch wenn sie weiterhin glauben wollen, wie sollen sie noch an diese Kirche glauben?

Doch ich bin fest davon überzeugt: Wir haben heute keine Gotteskrise, wir haben eine Kirchenkrise. Denn Christus ist auch in dieser Zeit bei uns. Er ist an unserer Seite und geht unseren Weg mit uns. Vor allem aber ist er an der Seite der Opfer, denen so lange nicht geglaubt wurde, deren Leben so oft zerstört wurde durch Männer der Kirche. Christus ist an ihrer Seite. Denn wir glauben an einen, der selbst zum Opfer wurde, der gequält und gemartert wurde und der den Weg der Liebe und Hingabe dennoch weiterging – bis zum Äußersten. Wir haben es gerade an Ostern wieder bekannt.

Dieser Christus ist bei uns, und er bleibt bei uns, auch wenn wir ihn nicht sehen können wie die Jüngerinnen und Jünger; auch wenn wir „nur“ sein Wort haben; auch wenn es gerade heute so schwer ist zu glauben. Er ist es, der uns den Weg zur Fülle des Lebens zeigt, der uns aus unserer Angst um uns selbst befreit, ja, der uns retten kann, indem wir seinen Weg mitgehen, seinen Weg der Liebe, indem wir das Brot miteinander teilen, sein Wort miteinander teilen und indem wir das Leben miteinander teilen, so wie er es mit uns teilt.

(Predigt in der Wort-Gottes-Feier zum 3. Sonntag der Osterzeit A, 22.4.2023, in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

 

Bild: „Unterwegs nach Emmaus“ von Janet Brooks-Gerloff, Abtei Kornelimünster, 1992.

Foto: privat

Schreibe einen Kommentar