Der gute Hirte

Evangelium

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Schon sind wir mitten in der Osterzeit. Eben noch haben wir Ostern gefeiert, die Auferstehung, den Sieg des Lebens, dass unser Leben ein Ziel hat und wir nicht ins Nichts gehen. Niemandes Leben endet im Nichts. Und an den letzten Sonntagen hörten wir von den Begegnungen mit dem Auferstandenen. Am Ostertag selbst: Maria Magdalena, am Ostermontag: den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus. Am zweiten Ostersonntag dann: Thomas, der nur durch diese Begegnung überhaupt erst glauben kann, und schließlich letzten Sonntag noch einmal den Aposteln am See von Genezareth. Sie alle begegnen dem Auferstandenen. Sie begegnen ihm wirklich. Sie spüren: Er lebt.

Der große jüdische Religionsphilosoph Martin Buber lehrt uns: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Buber: Ich und Du, Stuttgart 2006, S. 12). Wir Menschen können gar nicht wirkliches Leben im Allein-Sein; in der Vereinzelung. Wir brauchen einander, um zu leben. Maria Magdalena, Thomas, die Apostel, die Emmaus-Jünger: Sie alle wissen: Er ist da, und sie erkennen ihn. Thomas erkennt ihn an seinen Wunden; die Emmaus-Jünger, wenn er mit ihnen das Brot teilt und ihnen die Worte der Schrift deutet. Immer ist das Ergebnis dasselbe. Die Jüngerinnen und Jünger wissen: Er ist da; er ist bei ihnen; er lebt.

Die antiken Griechen benutzten zwei Wörter für das, was wir „Leben“ nennen: biós und zoé. Biós meint das physische Leben, das medizinisch messbar ist, das entsteht und vergeht. Hier ist immer von zoé die Rede, vom Leben, das kein Ende kennt, das nicht biologisch vergeht. Wir haben leider nur ein Wort dafür: „leben“, und wenn wir dieses Leben meinen; „das Leben in der Gegenwart Gottes“; „das Leben der Auferstehung“, dann müssen wir es umschreiben. Dann sagen wir: Das Leben in Fülle, das ewige Leben oder das Reich Gottes.

Auch heute spricht Jesus im Evangelium von diesem Leben in Fülle: „Ich bin gekommen, damit sie Leben haben, und es in Fülle haben.“ (Joh 10, 10) Zoé steht da im griechischen Original: Ein Leben, das nicht vergeht. Das sagt er uns zu.

Aber vorher erzählt er ein Gleichnis: Nur der gute Hirt geht durch die Tür, die Diebe steigen anderswo ein, und da die Jünger das anscheinend nicht gleich verstehen, verdeutlicht er es nochmal: Er spricht er von sich als der Tür und auch als dem Hirten, dessen Stimme die Schafe kennen und dem sie folgen. Er ist der gute Hirte, dem die Schafe folgen, weil sie ihn kennen.

Jesus spricht diese Bildworte in eine Gesellschaft, die geprägt war von einer nomadisierenden Agrarwirtschaft. Über 80 % der damaligen Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft, als Kleinbauern. Vergleiche mit Schafhirten müssten den Jüngern als nur allzu vertraut sein. Damals war es so, dass sich mehrere Hirten für ihre Kleinherden einen Stall teilten. Darauf spielt Jesus wohl an, wenn er sagt: Die Schafe kennen die Stimme ihres Hirten. Nur der folgen sie. Auf die Diebe u. Räuber hören sie nicht.

Nun müssen wir ehrlich sagen: Nur die wenigsten heute werden mit diesen Vergleichen unmittelbar etwas anfangen können. Wenn wir von Schafen hören, die ihrem Hirten folgen, wollen wir uns sicher nicht mit diesen Schafen vergleichen. Und wieviel Schindluder wurde ja auch mit solchen Vergleichen getrieben? Die Laien seien wie dumme Schafe. Sie müssten von ihren klerikalen Hirten geführt werden. Wie viele werden sich heute genau daran erinnert fühlen, wenn sie das hier hören? Wie ein Schaf möchte nun niemand angesehen werden.

Und nur auf die Stimme hin zu vertrauen, das gelingt wohl höchstens noch Kindern bei ihren Eltern. Wir Erwachsene haben doch heute die allergrößten Schwierigkeiten, aufs bloße Wort hin zu vertrauen. Wir glauben im Allgemeinen nur, was wir sehen. Und wie oft werden wir auch enttäuscht, ja betrogen durch Worte. Durch das, was andere als Wahrheit ausgeben? Aber ist das Vertrauen verspielt, ist alles verspielt. Wie schwer fällt es deshalb heute so vielen gerade den Worten der Kirche zu glauben nach allem, was geschehen ist, was an Lüge und Vertuschung ans Licht gekommen ist? Wir schwer fällt es, hier noch von Hirten zu sprechen?

Kommen wir da mit unserer Sprache, mit unserer bisherigen Art, Jesu Worte zu erklären und das Evangelium zu verkünden, wirklich weiter? Erreichen wir die Menschen heute mit solchen Vergleichen?

Wir leben nun mal in einer fundamental anderen Gesellschaft als die Kleinbauern zur Zeit Jesu, und wir erleben gerade einen unfassbaren Wandel. Und ja, das Vertrauen in die institutionelle Form unserer Kirche ist für so viele zerstört.

Doch ich glaube fest daran: Christus ist auch in dieser Zeit bei uns. Er ist an unserer Seite. Vor allem ist er an der Seite der Menschen in Angst und in Not. Er ist an der Seite der Opfer, z. B. derjenigen, denen so lange nicht zugehört wurde, nicht geglaubt, und deren Leben so oft zerstört wurde durch Männer der Kirche. Christus ist an ihrer Seite. Denn wir glauben an einen Christus, der selbst zum Opfer wurde, der gequält und gemartert wurde, und der den Weg der Liebe und Hingabe dennoch weiterging – bis zum Äußersten.

Dieser Christus ist bei uns, und er bleibt bei uns, auch wenn wir ihn nicht sehen können, wie die Jüngerinnen und Jünger damals; und wenn wir seine Stimme so oft nicht erkennen, und ihn nicht hören als den guten Hirten, der er ist. ER kennt uns, jede und jeden einzelnen. Und er ist derjenige, der uns den Weg zur Fülle des Lebens zeigt, so wie es hier im Evangelium steht; er ist wirklich die Tür zum Leben. Er ist es, der uns aus unserer Angst um uns selbst befreien kann, wenn wir seinen Weg mitgehen; seinen Weg der Liebe und Hingabe; wenn wir das Brot miteinander teilen; wenn wir sein Wort miteinander teilen; wenn wir das Leben miteinander teilen, so wie er es mit uns teilt.

(Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit, 30.4.2023, Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

Bild: Der gute Hirte, Fresko in der Calixtus-Katakombe, Rom (Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Guter_Hirte)

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