Jetzt haben wir acht Tage Ostern gefeiert, und am Ende dieses großen Festes, des größten, das wir Christen kennen, hören wir – wie jedes Jahr – das Evangelium vom „ungläubigen Thomas“. Darin allein steckt schon eine tiefe Weisheit.
Der Herr ist wahrhaftig auferstanden. Das sehen und verstehen die Jünger, und das feiern wir Christen seit bald 2000 Jahren, und dann hören wir von einem, der genau daran zweifelt, wenn er nicht empirische Beweise bekommt. Passt eigentlich genau in unsere Zeit. Auch wir wollen doch alles ganz genau wissen, wollen Beweise, wollen begreifen und nicht nur aufs bloße Hörensagen glauben. Die anderen Jünger sagten Thomas: „Wir haben den Herrn gesehen“, und der sagt: Ihr könnt mir viel erzählen.
Dieser Thomas ist wie wir, unser Zwilling quasi. Deshalb heißt er auch so, aramäisch: te‘omá, griechisch: dídymos, auf Deutsch: Zwilling.
Wie vielen geht es genauso wie ihm? Dass sie hören – von uns Christen: Der Herr ist auferstanden, wahrhaftig auferstanden, und sie sagen sich: Wer soll mir das bewiesen? Wie soll ich das glauben, wenn ich es nicht sehen und anfassen kann? Und so geht es ja mit allen Glaubensdingen. Man kann sie vielleicht nachvollziehen, sogar verstehen, aber sehen und anfassen und empirisch, also mit unseren fünf Sinnen, beweisen kann man sie nicht.
Ich kann diese Zweifler verstehen. Schon gar, wenn wir ihnen mit der typisch christlichen Selbstgewissheit gegenübertreten: Das muss man halt glauben. Das lehrt die Kirche seit Anbeginn. Man muss nur genug glauben, fest genug, richtig genug, und das reicht dann schon. Und wer nicht genug glaubt, wer nicht richtig glaubt, ist halt ein Zweifler, ungläubig wie dieser Thomas. Und der wird dafür von Christus hier sogar zurechtgewiesen: Du hast ja nur geglaubt, weil du gesehen hast, wirklich glücklich sind die, die nicht sehen und dennoch glauben können. Du musst eben nur fest genug glauben. Wie viel Leid haben wir über Menschen gebracht, die dieses Hundertprozentige nicht fertiggebracht haben? Die vielleicht glauben wollten und – wodurch auch immer – ihre Zweifel hatten. Die auf der Suche nach Antworten sind, aber mit unserer traditionellen Sprache nicht zufrieden sein können. Denen es auch vielleicht noch nie jemand verständlich gemacht hat. Und denen dann Christen mit ihrer hundertprozentigen Gewissheit gegenübertreten.
Der große tschechische Wissenschaftler und Priester Tomáš Halik wird nicht müde, vor den Hundertprozentigen zu warnen: Vor denen, die meinen, alles ganz genau zu wissen; die davon überzeugt sind, genau zu wissen, was Gott denkt und tut und wen er ausschließt, weil er oder sie zu wenig glaubt, und wer eben genug und richtig glaubt; die exklusiv sind und oft fanatisch und fundamentalistisch davon überzeugt, dass sie – und nur sie allein – zu 100 Prozent Recht haben.
Hüten wir uns vor den Hundertprozentigen!
Niemand, gar niemand, hat den vollkommenden Glauben. Alle Menschen haben Zweifel und Fehlsichten. Die Überzeugung, so viel zu wissen wie Gott, hat uns nichts anderes eingebracht als die Ursünde schlechthin. Natürlich wollen wir Menschen die Wahrheit wissen. Ohne Wahrheit können wir nicht leben. Thomas will nichts anderes als die Wahrheit.
Aber genauso brauchen wir Vertrauen. Ohne Vertrauen könnten wir auch nicht leben. Denn in den allermeisten Momenten unseres Lebens wissen wir die Dinge gar nicht hundertprozentig, sondern vertrauen wir einfach, dass die Dinge so sind, wie sie uns erscheinen. Nur mit diesem Grundvertrauen können wir unseren Alltag überhaupt bestehen. Und wir alle wissen, wie tragisch es ist, wenn dieses Grundvertrauen gestört ist durch Krankheit oder durch traumatische Erfahrungen. Und erst recht gilt das in unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Wenn nicht ein Mindestmaß an Grundvertrauen gegeben ist, dass die anderen es schon gut mit uns meinen; dass man dem, was sie sagen, erst einmal vertrauen kann, dann können unsere Beziehungen im Alltag gar nicht funktionieren.
Und am meisten geht uns das so in der Liebe zu einem Menschen. Wir müssen einfach vertrauen können, dass es wahr ist, wenn jemand zu uns sagt: „Ich liebe Dich.“ Denn einen wissenschaftlichen Beweis dafür haben wir nicht. Den werden wir nie haben. Wir haben nur die Worte: „Ich liebe Dich“, und vor allem das Verhalten des geliebten Menschen, Zeichen der Zuneigung, der Zärtlichkeit. Aber wirkliche Beweise sind das nicht. Letztlich müssen wir vertrauen. Und wie oft zweifeln an dem, was andere sagen? Und diese Zweifel sind ja auch völlig natürlich.
Letzte Woche war ich in Rom. Dort stehen in der Lateranbasilika diese riesengroßen Figuren der 12 Apostel. Die meines Namenspatrons Thomas gefällt mir besonders. Der steht da mit einem emporgereckten Zeigefinger. Nicht nach vorne ausgestreckt, sondern nach oben gerichtet. Natürlich soll das den Finger symbolisieren, den er in die Wunde legen soll. Es könnte auch wie ein erhobener Zeigefinger wirken, wie bei einem Besserwisser: Seht her, ich habe euch was voraus!
Aber vielleicht kann man es auch einfach so verstehen: Seid aufmerksam, schaut genau hin auf das, was euch begegnet! Nehmt wahr, und seid nicht gleichgültig!
Ich bin überzeugt: Gott wirkt in unserem Leben durch so viele Kleinigkeiten, durch so viele andere Menschen. Wir müssen es nur wahrnehmen. Wir müssen nur aufmerksam sein. Das Reich Gottes zeigt sich uns jetzt schon – in diesem Leben; in der Wirklichkeit, in der wir leben. Immer wieder. Um das zu erfahren, brauchen wir keinen hundertprozentigen Glauben. Wir brauchen nur die innere Freiheit, den Weg vom Zweifel zum Vertrauen zu gehen.
Das heutige Evangelium lehrt uns: Suche und frage unablässig, und du wirst etwas finden! Ich glaube fest daran: Christus will sich uns zeigen in dem, was uns begegnet in diesem Leben, vielleicht im Allerkleinsten und Unscheinbarsten. Vielleicht in dem, was uns ein anderer Mensch über ihn sagt. Vielleicht nicht so wie beim Apostel Thomas. Vielleicht anders. Aber nicht weniger glaubwürdig.
So dass auch wir sagen können: „Mein Herr und mein Gott“, und spüren, wie er uns befreit aus der Macht der Angst um uns selbst. Dafür braucht es nichts Hundertprozentiges. Dass er uns befreit zur Fülle des Lebens.
(Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit, 7.4.2024, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)
Bild: Figur des Apostels Thomas in San Giovanni in Laterano, Rom, von Pierre Le Gros (ca. 1710), Foto: privat
Vgl. zum Ganzen: Jakob Paula: “Zweifel eingeschlossen. Wie die Evangelien Raum für Fragen offenlassen.” In: Christ in der Gegenwart, Heft 15/2024 vom 7.4.2024, S. 1.