Was sehen Sie auf diesem Bild?
Ich sehe eine junge Frau. Nachdenklich sieht sie aus, ein bisschen ängstlich vielleicht. Aber nicht schüchtern, sondern klar und selbstbewusst. Eine Hand wie zur Abwehr erhoben. Mit der anderen hält sie ihren blauen Schleier zusammen. Sie sieht uns nicht an. Sie sieht woanders hin; gleichsam aus dem Bild hinaus. Ein paar Gegenstände sieht man auch auf dem Bild, vor allem ein aufgeschlagenes Buch. Es wirkt, als sei die junge Frau beim Lesen überrascht worden. Sie wirkt in Gedanken. Sie wirkt fern.
Die Kunstwissenschaft hat herausgefunden: Das Buch ist der Tenach, die hebräische Bibel, und es ist aufgeschlagen beim Propheten Jesaja, wo es heißt: „Deshalb wird der Herr euch von sich aus ein Zeichen geben: Die junge Frau (Jungfrau) wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen, den wird sie Immanuël nennen“ (Jes 7,14, GN). Von hier erschließt sich, wer auf dem Bild dargestellt ist.
Das Gemälde stammt von Antonello da Messina und gilt als eines der bedeutendsten der italienischen Frührenaissance. Es wurde um 1475 gemalt und hängt in Palermo. In München hängt ein ähnliches, quasi das Vorgängerbild dazu. Das Gemälde kommt mit ganz wenigen Farben aus. Auch die Frau sieht sehr schlicht aus: Kein glänzendes Gewand, kein Schmuck, nur ein einfaches blaues Kopftuch. Insgesamt ist die Szenerie sehr zurückhaltend, geradezu schlicht und einfach. Es kommt also nicht auf die Ausstattung an, sondern allein auf die junge Frau, auf ihre Haltung, ihren Blick, ihre Gesten. Und doch liegt gerade darin eine ganze Geschichte.
Der Maler nannte das Bild: „Maria der Verkündigung“. Dargestellt ist genau die Szene, wo der Engel Gabriel Maria die Geburt Jesu ankündigt, so wie es im Lukas-Evangelium berichtet wird (Lk 1, 26-38). Diese Maria schaut gleichsam den Engel an und hebt die Hand ein wenig wie zur Abwehr. Sie hat wohl gerade gehört, was der Engel ihr sagte. Das muss sie erstmal verdauen. Und diese Maria ist ganz anders als auf den üblichen Verkündigungsdarstellungen, man denke nur an diejenigen von Leonardo da Vinci oder Boticelli oder später Raffael oder Rembrandt. Hier steht kein Engel mit weißen Flügeln, keine Taube schwebt am Himmel und bestahlt Maria, keine Lilie als Symbol der Jungfräulichkeit. All das braucht dieses Bild nicht. Man sieht nur die junge Frau und ihren Blick – und die Hand. Aber diese Maria hört auch, dass der Engel sagt: „Fürchte dich nicht! Freu dich!“ Und so kann man annehmen, dass die Szene weitergeht, dass die Hand sinkt, dass Maria ihre Berufung, ja ihr Schicksal annimmt. Die Hand, die das Tuch hält, zeigt ja auch schon auf sie selbst.
Ich will jetzt keine Diskussion über Marienverehrung führen oder über den Unsinn, der jahrhundertelang im Hinblick auf diese Frau verzapft wurde. Nur so viel: Wenn ich zum Beispiel Martin Luthers Magnificat-Auslegung lese, sehe ich gleichsam dieses Bild vor mir.
Maria ist diejenige, die Gott voll und ganz vertraut. Mag sein, zunächst skeptisch und auf alle Fälle selbstbewusst. Aber doch in der tiefen Einsicht: Gott liebt mich, vollkommen, ohne jede Bedingung, und die in ganzer menschlicher Freiheit ja zu Gott sagt: Mir geschehe, wie du es sagst. So schwer dieses Vertrauen manchmal auch ist. Das sehe ich in diesem Bild.
Wir alle haben unsere Berufung. Manchmal dauert es, bis wir sie erkennen. Aber dann ja zu sagen zu Gott und ganz auf den Gott der Liebe zu setzen; den Gott, der bei uns ist; den Gott, der uns aufrichtet, der uns aus der Niedrigkeit holt, das hat Maria getan. Weil sie wusste, dass wir in ihm den Weg zum Leben haben; den Weg der Wahrheit; den Weg, der ganz frei macht. Amen.
(Ansprache in der Ökumenischen Abendandacht im Advent am 12.12.2019, Apostel-Paulus-Kirche, Berlin-Hermsdorf)