So stelle ich mir einen Heiligen vor: Einer, der alles, was er besitzt, hergibt, um Jesus ganz ähnlich zu werden, ohne auch nur einmal an sich selbst zu denken. Einer, der versucht, mit allen Menschen – und nicht nur mit den Menschen – mit allen Geschöpfen, mit Tieren und Pflanzen, mit der ganzen Natur in Einklang zu leben. Einer, an dem nichts Falsches ist. So stelle ich mir einen Heiligen vor. Und doch berichten die Zeitgenossen des Heiligen Franz von Assisi, dass es mit ihm alles andere als leicht war. Noch zu seinen Lebzeiten brach deshalb seine Armutsbewegung in verschiedene Zweige auseinander, weil viele seiner Brüder sagten, so radikal wie der könne man nun wirklich nicht leben, so komplett auf alles verzichten, und so unendlich friedfertig seien wir Menschen einfach nicht, so einfach, wie Franziskus es wolle, sei es im Leben eben nicht. Und hat die Kirche über die Jahrhunderte den Heiligen Franz nicht zwar verehrt und seine Ideale hochgehalten, aber selbst danach gelebt? Wohl kaum!
Auch heute finden wir oft das Argument, dass man natürlich ein Mindestmaß an Auskommen, an geregeltem Einkommen, an Infrastruktur haben muss, wenn man in dieser Welt zurechtkommen will. Auch die Franziskaner haben heute Laptops, auch die Franziskaner fahren Autos, auch die Franziskaner leben in – wenn auch bescheidenen – Häusern. Und schon gar, wenn man Gutes tun will, wenn man den Armen heute helfen will. Gerade dann braucht man doch ein Mindestmaß an Ausstattung. Wir als Kirche haben dieses Gutes-Tun und den Armen-Helfen deshalb professionalisiert und die Caritas geschaffen, ein Riesenunternehmen.
Ist das Leben also – gerade heute – nicht viel komplizierter, als es sich der Heilige Franz vorgestellt hat – und vorgelebt hat? Alles ist so unglaublich kompliziert, denken wir.
Aber Jesus sagt: Nein! Es ist nicht kompliziert. Es ist im Grunde vollkommen einfach. Die Kleinen, die Unmündigen, die Kinder können es verstehen. Die Klugen, die Hochgelehrten, die Problematisierer haben im Grunde wenig verstanden.
Natürlich können wir alles kompliziert machen. Das Wort kompliziert kommt vom Lateinischen „plicare“, zusammenfalten. Etwas, das wieder und wieder und immer kleiner zusammengefaltet ist, ist kompliziert. Und wie kompliziert machen gerade wir Christen die Welt und insbesondere die Theologen. Lesen Sie mal einen Satz in einer beliebigen Dogmatik, sagen wir von Karl Rahner, den ich nun wirklich sehr mag!
Alles, was da steht, soll eigentlich nur dazu dienen, den Glauben an Jesus besser zu verstehen und es leichter machen, ihm nachzufolgen. Und jeder Satz, der da steht, stimmt natürlich. Aber er geht über acht Zeilen, und ist voller Fremdworte, und man braucht wirklich ein tiefes philosophisches und theologisches Wissen, um ihn, diesen einen Satz, zu verstehen.
Jesus ist nicht kompliziert. Seine Wahrheit ist ganz einfach. Seine „Last ist leicht“, wie er sagt, und jedes Kind kann verstehen, worauf es ankommt. Deshalb sagt er ja: Werdet wie die Kinder! Um Jesus nachzufolgen, brauche ich kein Studium. Das hat uns gerade der Heilige Franziskus gelehrt. „Kommt zu mir!“ Und ihr werdet sehen, was der Vater euch offenbart. Und ihr werdet wissen, wie ihr leben sollt, und es ist ganz einfach: Nämlich ganz für die Anderen da zu sein. Mehr muss es gar nicht sein. Auch das lehrt uns der Heilige Franz. Macht es nicht komplizierter, als es ist!
Wir nennen das heute Achtsamkeit oder Nachhaltigkeit. Und ganz schnell werden wir auch hier wieder kompliziert und nennen es „Mindfulness-Based Stress Reduction“ und entwickeln hochkomplizierte Theorien darüber. Das kann man natürlich machen. Und das hilft sicher manchen.
Aber ein Franziskaner aus der 31. Straße in New York City, der sich dort um die Ärmsten kümmert, hat mir mal beigebracht, dass es auch heute, auch in einer Großstadt, auch unter den Bedingungen, wie wir so leben, so kompliziert nicht sein muss.
Er sagte: Wenn du heute Gutes tun willst, wenn du eine gerechte Welt willst, wenn du unseren Planeten retten willst und wenn du noch dazu glücklich werden willst, brauchst dich nur an das zu halten, was Jesus genau hier in diesem Evangelium gesagt hat: Nehmt mein Joch auf euch! Kommt zu mir! Und ihr werdet Ruhe finden für Eure Seele.
Der Papst hat heute in Assisi ein neues Lehrschreiben, eine Enzyklika, veröffentlicht. Sie trägt den Titel: „Fratelli tutti“ (Alle sind Brüder). Der Titel ist unglücklich gewählt, denn natürlich sind damit auch die Schwestern mitgemeint. Deshalb hatte die Enzyklika schon mal einen schlechten Start. Aber was weiter darin steht, kann sich sehen lassen. Denn dieser Papst, der am 13. März 2013 den Namen des Heiligen, dessen Gedenken wir heute feiern, angenommen hat, legt darin dar, dass nur die Geschwisterlichkeit mit allen Menschen eine Zukunft auf unserer Erde sichert. Dazu müssen wir immer zuerst bei uns selbst und unserem Verhältnis zum Mitmenschen anfangen. Nur wenn dieses Verhältnis in seinem Kern Geschwisterlichkeit ist, nur wenn wir wissen, dass wir die Anderen so wie Schwestern und Brüder und nicht wie Sklaven oder Gegner behandeln dürften, nur wenn wir uns selbst von anderen ebenso behandeln lassen wollen, dann erfüllen wir das Gebot Jesu, das so einfach ist:
Sorgt für einander! Liebt einander! Lebt nicht auf Kosten der Anderen, sondern seid ganz für die Anderen da! Und zwar nicht nur theoretisch und politisch abstrakt, sondern ganz konkret in eurem kleinen Leben. In den ganz alltäglichen Beziehungen, die ihr habt. Und das muss gar nicht radikal oder kompliziert sein. Liebt einander!
(Zum Franziskus-Fest am 4. Oktober 2020)
Bild: Public Domain unter: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/da/StFrancis_part.jpg