Die Liebe ist zur Welt gekommen

Job 1,1-18

Wir feiern den Abschluss des Jahres und haben doch gerade noch einmal das Evangelium gehört, das uns am Weihnachtstag vorgetragen wurde: Den Beginn des Johannes-Evangeliums. „Im Anfang war das Wort, das ewige Wort Gottes, der Logos.“ (Joh 1,1)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen und Euch geht, aber immer, wenn ich diese Stelle höre, fühle ich mich irgendwie überwältigt. Sie klingt sehr triumphal und abstrakt und sehr philosophisch und erklärungsbedürftig. So ganz anders als die romantische Erzählung von der Geburt Jesu, die wir am Heiligen Abend hören und in der wir uns emotional so leicht wiederfinden und wohl fühlen. „Im Anfang war das Wort“ – und dieses ewige Wort Gottes ist Christus. Er ist von Anfang an bei Gott; ja er ist Gott; vor aller Zeit; vor der Erschaffung des ganzen Universums. Das übersteigt unsere gewöhnlichen Vorstellungen doch bei weitem. Aber dem Johannes-Evangelium geht es nicht wie Lukas und Matthäus darum, die Geburt des Kindes zu schildern und die Szenerie, in der das geschieht. Dem Johannes-Evangelium geht es einzig und allein darum, wer das ist, der da geboren wurde; und welche Bedeutung dieser Eine für die ganze Welt hat. Warum nun dieses Evangelium am Altjahrsabend? Jetzt könnte man besserwisserisch sagen: Na ja, die Weihnachtszeit ist ja auch noch nicht zu Ende; auch wenn die Öffentlichkeit heute das suggerieren mag. Die Weihnachtszeit geht ja mindestens noch bis Epiphanias oder sogar bis übernächsten Sonntag; und für sehr Traditionelle sogar bis zum 2. Februar. Nein, das ist nicht der Grund, warum wir dieses Evangelium für heute Abend ausgewählt haben.

Jedes Jahr feiern wir den Abschluss des Jahres als Einschnitt, als Ende und Neubeginn, und setzen manchmal die größten Hoffnungen in so einen Jahreswechsel; dass alles neu wird; besser wird. Und das ist auch völlig ok. Das Ende und der Beginn eines Kalenderjahres ist ja auch bedeutsam. Aber wir Christen feiern die eigentliche Zeitenwende an Weihnachten. Da wurde wirklich alles neu; mit der Geburt dieses Kindes. So wie ja mit der Geburt eines Kindes immer etwas völlig Neues anbricht; ein neues Leben; eine neue Chance; eine neue Hoffnung.

Aber das Johannes-Evangelium betont noch dazu, dass es eben nicht irgendein Kind ist, das da an Weihnachten geboren wurde. Er ist es: der menschgewordene Gott; die Offenbarung Gottes schlechthin; Gottes letztes Wort könnte man sagen: Jesus. Denn in diesem Jesus erkennen wir Gott so, wie er ist. Nur durch diesen Jesus erfahren wir überhaupt, wer dieser Gott für uns wirklich ist. Nur durch Jesus erfahren wir, warum Gott eben kein abstrakter, absoluter, in Unzugänglichkeit ferner Gott ist, wie andere Religionen und Weltanschauungen ihn verstehen. Wir Christen glauben, dass Gott „Mensch wie wir geworden“ ist, – so hieß es eben im Glaubenslied (vgl. Gotteslob, Nr. 777) – und zwar aus reiner Liebe zu uns; dass Jesus diese reine Liebe ist; dass wir ihn in Liebe erfahren können; dass er uns in dieser Liebe geborgen hält, für uns da ist, unser Leben teilt. Das feiern wir an Weihnachten, und das können wir eigentlich das ganze Jahr über feiern, gerade auch am Jahreswechsel.

Gott ist da; hier bei uns; und er liebt uns; Dich und mich; jede und jeden. Und alle Ängste, alles Versagen, alle Schuld sind dadurch zwar nicht weggewischt, aber aufgehoben in der noch viel größeren Liebe. Dieser Liebe begegnen wir in Jesus. Und: Wir können ihr in jedem Menschen begegnen. Der große Martin Buber sagte einmal: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. (Buber, Martin: Ich und Du, 2005, S. 12) Nur in der Begegnung mit einem Anderem vollzieht sich unser Leben wirklich; nicht allein; nicht einsam; nicht ich für mich; nur in der Begegnung mit einem Du.

Und wir Christen glauben, dass diese Begegnung nicht nur mit anderen Menschenmöglich ist, sondern auch mit Gott, durch den Menschen Jesus. Denn wir glauben ja nicht an eine Weltanschauung oder ein System von Ideen; wir glauben auch nicht an dogmatische Sätze; das ist alles sekundär; ja nicht einmal an ein Buch. Wir glauben an eine Person; wir glauben dieser einen Person, der als Kind in Bethlehem zur Welt gekommen ist: diesem Jesus. Auf ihn kommt es an; auf ihn kann ich bauen; ihm vertrauen. Und das ist die wirkliche Zeitenwende; denn das macht alles neu. Die Liebe ist zur Welt gekommen; zu uns; zu allen.

Ich weiß, dieses Jahr zu feiern ist für viele nicht leicht, und für viele war dieses Jahr mit viel Leid und Angst und Trauer verbunden. Vieles mussten wir ändern; vieles ist uns nun schon im zweiten Jahr abhandengekommen. Und in so vielem haben wir in diesem Jahr versagt; so vieles sind wir schuldig geblieben. Wir alle könnten jetzt sicher eine lange Liste aufzählen; und gerade wir Kirchenleute dürfen uns da nicht in die Tasche lügen.

Wie oft haben gerade die Kirchen versagt; haben die Kirchen es an Liebe fehlen lassen; und mehr an die eigene Reputation gedacht als daran, Anderen in Liebe zu begegnen? Wie viele Menschen haben dieses Jahr wieder die Kirchen verlassen, weil sie nicht gespürt haben, dass da jemand ist, der ihnen in Liebe begegnet; der für sie da ist, und nicht nur für sich selbst? Wie oft haben gerade die Kirchen den Kern von Weihnachten vergessen oder verraten?

Ein schwieriges Jahr geht zu Ende. „Man kann verzweifelt oder wehmütig dabei werden, wenn man so an Silvester merkt, wie wieder ein Stück des irdischen Lebens unwiderruflich vergangen ist. Aber die Zeit eilt Gott und seiner Ewigkeit entgegen, nicht der Vergangenheit und dem Untergang“ (Rahner, Karl: Das große Kirchenjahr, 1992, S. 135). Denn das ist der Kern von Weihnachten.

Und dieser Kern von Weihnachten, diese befreiende Botschaft von der Liebe Jesu gilt für immer und für jede und jeden: Gott wird Mensch als dieses verletzliche und hilfsbedürftige Kind, damit wir Menschen Gottes Kinder sein können, wenn wir unsere Herzen dieser Liebe öffnen. Diese Liebe allen weiterzugeben, am meisten denen, die in Not sind; das ist – nicht nur an Weihnachten – unsere Aufgabe als Christen. Und wenn es einen Vorsatz fürs neue Jahr geben kann, dann doch nur diesen einen: Anderen mit der Liebe zu begegnen, mit der wir durch Jesu Geburt beschenkt worden sind.

Ein schwieriges Jahr geht zu Ende, aber für wie viel können wir auch in diesem Jahr dankbar sein; wie viel Liebe haben wir erfahren; wo wir es vielleicht gar nicht vermutet haben; ja vielleicht nicht einmal gemerkt Und in wie viel Begegnungen haben wir gespürt; da ist jemand für mich da.

Lassen Sie uns auch daran denken an diesem Altjahrsabend und vor allem lassen Sie uns nicht vergessen: „Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort im fleischgewordenen Wort in die Welt hineingesagt. Und dieses Wort heißt: ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“ (Rahner, Karl: ebd., S. 80)

(Predigt im Ökumenischen Gottesdienst am Altjahrsabend, 31.12.2021, Apostel-Paulus-Kirche, Berlin-Hermsdorf)

Schreibe einen Kommentar