Leidens-Ort Kirche

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Anfang 2010, also vor nun schon mehr als 12 Jahren, wurde der Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg publik. Der damalige Rektor veröffentlichte in der Morgenpost, dass Schüler dieses Gymnasiums über Jahrzehnte von katholischen Geistlichen massive sexualisierte Gewalt erlitten haben. Klaus Mertes, der Rektor, schrieb damals klipp und klar: „Neben der Scham und der Erschütterung über das Ausmaß des Missbrauchs … müssen wir uns … die Aufgabe stellen, wie wir es verhindern können, heute durch Wegschauen wieder mitschuldig zu werden“ (vgl. Berliner Morgenpost vom 28.1.2010).

Heute, 12 Jahre später, gilt dieser Satz immer noch. Denn heute wissen wir alle: Bei den Schülern des Canisius-Kollegs blieb es nicht. In die Tausende gehen die Missbrauchsfälle, nicht nur in Berlin und nicht nur in der katholischen Kirche, und das sind nur die bisher bekannt gewordenen.

Die Bundesregierung hat noch 2010 einen sog. „Runden Tisch“ ins Leben gerufen, der zu Aufklärung und Prävention beitragen sollte und der vor allem den Opfern Gehör verschaffen sollte. Denn damals wie heute sind es die Betroffenen, die am wenigsten gehört werden. Ich habe in meiner damaligen beruflichen Funktion an diesem Runden Tisch mitgearbeitet. Was ich dabei an Briefen von Betroffenen zu lesen bekam oder im Gespräch mit Ihnen hörte – an furchtbarsten Details –, überstieg bei weitem meine Vorstellungskraft und wird wohl auch nie mehr aus meinem Gedächtnis verschwinden.

Tausenden von Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen wurde in den Kirchen Gewalt angetan; zum Großteil sexualisierte Gewalt, aber nicht nur, auch massive psychische und spirituelle Gewalt; nicht nur in der katholischen Kirche, auch in den anderen und nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, und für manche von ihnen dauert diese Gewalt bis heute an.

So muss man sich doch fragen: Wie kann es sein, dass gerade die Kirchen so massiv zu Orten der Gewalt, zu Leidensorten für Unzählige wurden? Und wie kann es sein, dass dies bis heute von einigen noch immer vertuscht oder geleugnet wird? Und wie kann es sein, dass die Botschaft Jesu von der Liebe zu allen Menschen gerade von Geistlichen so verraten, ja selbst so missbraucht worden ist?

Denn machen wir uns nichts vor: Wenn Sie heute einem der Opfer gegenüber das Wort „Liebe“ und gar „Liebe Gottes“ in den Mund nehmen, fühlen sich nicht wenige einmal mehr verhöhnt und verraten. Da hilft es dann auch nichts, dass statistisch noch mehr Gewalttaten als in den Kirchen im häuslichen Umfeld stattfinden; und dass es das in Vereinen genauso gibt, gerade im Sport. Und da hilft auch kein Blick in die Geschichte: Dass seit der Antike quer durch die Geschichte immer wieder die Kirchen Orte des Grauens, des Krieges, der Verletzung, der Schmach waren. Dass beispielsweise Papst Julius II. ein kriegerischer Despot war oder Luther ein Judenhasser, das lässt sich – bei aller historischen Größe – ja nicht bestreiten und ist natürlich geschichtlich einzuordnen. Aber das hilft ja nichts für jetzt. Auch dass die Kirchen sich selbst immer auch als Gemeinschaften von Sündern sahen und nie nur als die „Gemeinschaft der Heiligen“, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, das hilft nichts, und niemand mit einem bisschen christlichen Gewissen wird sich selbst davon ausnehmen, einer dieser Sünder zu sein.

Doch darum geht es nicht. Das alles kann nicht als Generalabsolution für jede Schlechtigkeit dienen, und es verbietet sich jede Form der Relativierung.

Denn die Missbrauchsfälle und die unzähligen psychischen Gewalttaten der letzten 50 Jahre gehen uns etwas an. Da kennen wir die Betroffenen inzwischen, zum Teil persönlich, und da kennen wir die Täter, zum Teil persönlich; und da leben diejenigen zum Teil noch, die Verantwortung tragen für Vertuschung und Verschleierung und die Arroganz der Macht; zum Teil sind sie noch in Amt und Würden. Denn „der Missbrauchsskandal besteht ja wesentlich nicht nur aus den Taten der Täter, sondern auch im Vertuschen durch die kirchlichen Verantwortlichen“ (Wolfgang Beinert, in Herder-Korrespondenz 3 (2022), S. 49) und in deren mangelnder Übernahme von Verantwortung.

Es gibt inzwischen sehr kluge Analysen, welche Strukturen ein Großteil der Bedingungen geschaffen haben für die Ermöglichung dieser Gewalt innerhalb der Kirchen. Und natürlich sind es vor allem diese Machtstrukturen und auch die Sexualfixierung der Kirchen, die diese Gewalt bedingen. Und natürlich ist es theologisch für die Allermeisten nicht mehr verstehbar, warum Frauen nicht alle geistlichen Ämter übernehmen können sollten; und natürlich gibt es in den Kirchen oft etwas Männerbündisches; und natürlich sind viele der in den Kirchen auch heute noch vertretenen Ansichten über die menschliche Sexualität wissenschaftlich schlichtweg unzureichend, vor allem aber absolut verletzend.

Aber das ließe sich ändern. Doch wenn es geändert würde, würde das das Gewaltproblem und das Machtproblem schon komplett lösen? Wäre das schon die alleinige Antwort auf die unzähligen Missbrauchsfälle und die strukturelle Gewalt? Es wäre mit Sicherheit schon hilfreich. Aber unser eigentliches Problem hat Klaus Mertes doch schon 2010 klipp und klar benannt: „Neben der Scham und der Erschütterung über das Ausmaß des Missbrauchs … müssen wir uns … die Aufgabe stellen, wie wir es verhindern, heute durch Wegschauen wieder mitschuldig zu werden“ (s.o.).

Darum geht es doch. Wir dürfen nicht wegschauen, und vor allem: Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen heute erneut zu Opfern werden. Das ist entscheidend. Denn wie oft ging und geht es innerhalb der Kirchen um Machterhalt, um den Schutz der Institution, um den Erhalt von Sonderrechten, die einem vormodernen Selbstverständnis der Kirche als quasi neben-staatlicher Gesetzgeber entspringen?

Wie oft denken wir in den Kirchen, wir seien – als Amtsträger genauso wie als Laien – privilegierter als andere; besser; moralisch höherwertig; und vor allem: wir hätte eigene Rechte, die uns von der Welt abheben? Denn machen wir uns nichts vor: Wie oft werden in den Kirchen Menschen von oben herab behandelt; erfahren Ausgrenzung; Erniedrigung. Das ist zwar noch nicht Gewalt, aber bereits der Anfang davon.

Als Christinnen und Christen tragen wir alle Verantwortung dafür, was in den Kirchen geschieht. Unterschiedliche Verantwortung natürlich, das ist klar und das muss auch benannt werden! Aber wir alle müssen alles dafür tun, Böses zu verhindern; und das fängt im ganz Kleinen an. Denn vor aller strukturellen Debatte müssen wir zuallererst selbst dafür sorgen, dass Menschen durch uns in der Kirche Zuwendung und Mitgefühl erfahren und nicht Ablehnung und Exklusivität, Barmherzigkeit und Frieden erfahren und nicht Arroganz und Anmaßung; durch uns und nicht durch sonst wen! Als Mutter Theresa einmal von jemand gefragt wurde, was sich denn in der Kirche als erstes ändern müsse, da antwortete sie: „Sie und ich!

Es kommt zuallererst auf unser eigenes Handeln an, ob Kirchen Orte des Leidens oder der Liebe sind, Orte der Freiheit oder der Angst; ob die Kirche zuerst für sich selbst da ist; für den eigenen Machterhalt oder für die Anderen, für die Leidenden, die Ausgegrenzten, die Opfer. Und wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind: Wie oft denken wir denn zuerst an uns, wie oft schließen wir andere aus und finden, wir selbst seien so viel besser als sie?

Christus hat uns nicht aufgetragen: Schafft euch eine Struktur, in der ihr möglichst Macht entfalten könnt, einen besonderen Status habt und wichtige Player in der bürgerlichen Welt seid. Christus hat uns nur ein Gebot gegeben, ein „neues Gebot“, wie er sagt: „Liebt einander!“ (Joh 15,17)Denn: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner.“ (1 Joh 4,20).

Genau das darf dann aber kein nettes Bibelzitat bleiben und keine abstrakte ethische Forderung. Es muss unseren Alltag bestimmen, wie wir miteinander umgehen, wie wir über die Anderen denken, über andere reden, und wie wir uns für Notleidende, für die Opfer, einsetzen. Und dann aber auch: wie wir unsere Kirchen organisieren, wie wir in ihnen Macht ausüben. Ob wir eine Wagenburgmentalität haben und zuerst die Institution schützen, die Lehre, die Macht oder die Schwachen, die Leidenden, die Opfer. „Gott hilft nur dem, der sich selbst anschickt zu helfen“ (Wolfgang Beinert, s.o., S. 51)

Als christliche Kirchen sind wir nicht für uns selbst da, sondern wir sind dazu da, für Andere zum Segen zu sein und ihnen in ihrer Not zu helfen, sie zu befreien, ihnen die Angst zu nehmen und nicht auch noch Angst zu schüren durch unser Handeln als Kirche. Herauszugehen aus dem Egoismus und im Füreinander zu leben und damit genau das zu tun, was der menschgewordene Gott selbst für uns alle getan hat. Kirchen wurden und werden zu Leidens-Orten, wenn wir genau das vergessen.

 

(Ansprache in der ökumenischen Passionsandacht am 9. März 2022 in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

Bild: privat

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