„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“

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Evangelium

Ich könnte hier viel erzählen zum heutigen Evangelium über Sünden und Zurechtweisungen, über verurteilen und vergeben, über Gemeindezucht und Exkommunikation, denn um all das geht es hier augenscheinlich. Stattdessen möchte ich aber zunächst einen kurzen Text vortragen. Denn vor genau 30 Jahren veröffentlichte die Päpstliche Bibelkommission eine bahnbrechende Einschätzung über „die Interpretation der Bibel in der Kirche“. Darin wurden die unterschiedliche Zugänge zur Heiligen Schrift und Verständnisweisen dargelegt und wie der Vatikan die verschiedenen Interpretationen der Bibel sieht. Ein Kapitel darin trägt die Überschrift: „Der fundamentalistische Umgang mit der Bibel“. Daraus ein kleines (von mir gekürztes) Stück:

Die fundamentalistische Verwendung der Bibel geht davon aus, dass die Hl. Schrift … wortwörtlich gilt und bis in alle Einzelheiten wortwörtlich interpretiert werden muss. … Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Umgangs … besteht darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt. … Er weigert sich zuzugeben, dass das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und … von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. … Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich, denn er zieht Personen an, die auf ihre Lebensprobleme biblische Antworten suchen. Er kann sie täuschen, indem er ihnen fromme, aber illusorische Interpretationen anbietet, statt ihnen zu sagen, dass die Bibel nicht unbedingt sofortige, direkte Antworten auf jedes dieser Probleme bereithält. … Er gibt eine trügerische Sicherheit, indem er unbewusst die menschlichen Grenzen der biblischen Botschaft mit dem göttlichen Inhalt dieser Botschaft verwechselt.“ (aus: Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Vatikan, Libreria Editrice Vaticana, 1993, S. 72 ff.)

Warum trage ich Ihnen das vor? Weil es auch heute, und vielleicht sogar vermehrt Menschen gibt, die genau diese Sicht der Bibel verbreiten, so unter den Protestanten, vor allem in den USA, unter Orthodoxen, unter Freikirchlern, aber genauso auch unter Katholiken: dieses fundamentalistische Verständnis.

Wenn wir heute Lesungen gehört haben aus dem Ezechiel-Buch und dem Matthäus-Evangelium, wo es um Sünder geht und wie die Gemeinde mit ihnen umgehen soll, dann sind wir schnell mit einer „Küchenpsychologie“ bei der Hand, nach dem Motto: Akzeptieren oder verändern oder, wenn das nichts hilft, eben verlassen!

Aber dabei kann es passieren, dass wir genau diesem fundamentalistischen Verständnis aufsitzen, das der Vatikan zurecht so vehement ablehnt. Dass wir diese Texte „wortwörtlich“ nehmen, und sie eins zu eins in unsere Zeit und unsere Gesellschaft umsetzen. Das kann uns mit allen Stellen der Heiligen Schrift passieren, und nicht nur mit der Heiligen Schrift, auch in der Liturgie, und in den Dokumenten der Kirche in ihrer Geschichte. Immer müssen wir uns die Frage stellen: Wie müssen wir heute diese Stellen verstehen? Was sollen sie uns sagen? Und da hilft eben nicht allein die wortwörtliche Interpretation.

Denn selbstverständlich war das keine demokratische oder inklusive Gesellschaft zurzeit Jesu. Selbstverständlich gab es die Auffassung, dass Kriege gerecht sind, dass andere Völker weniger wert sind als das eigene, dass Frauen eine niedrigere soziale Stellung haben, dass Kinder sowieso gar nichts gelten – gesellschaftlich.

Wir müssen erkennen, dass uns die Heilige Schrift Gottes Wort in den Worten von Menschen zuspricht, und zwar in einer konkreten historischen Situation, und dass Gottes leibhaftiges Wort, Jesus, in einer konkreten historischen Situation Mensch wurde; vor 2000 Jahren. Und dass seine Worte eben damals auf andere Bedingungen trafen als heute. Und dass die Kirche seit 2000 Jahren immer wieder Anläufe unternimmt und -nehmen muss, Gottes Wort immer tiefer zu verstehen. Aber dass wir auch nur Menschen sind, und unser Verständnis in die Irre gehen kann. Und dass wir gemeinsam um das rechte Verständnis für uns ringen müssen.

Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, eine der größten Sünden ist die der Gewissheit, der Ausschließlichkeit, der Exklusivität; nach dem Motto: Ich allein weiß alles. Ich allein habe recht und die anderen eben unrecht. Es kommt sowieso nur auf meine Sicht der Dinge an. Genau das ist falsch! Das zeigt uns Jesus im Evangelium. Die Gemeinde soll beraten, soll unterschiedliche Sichten anhören und aushalten, und vor allem: Sie soll zusammenbleiben.

Heute geht es im Evangelium um Gemeinschaft, um Gemeinde. Lassen wir uns nicht spalten! Bleiben wir als Gemeinde zusammen! Spüren wir, dass Jesus unter uns anwesend ist; in der Gemeinde anwesend ist, „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“. Und das hat Konsequenzen für unser künftiges Leben als Gemeinde: Wir dürfen nicht – fundamentalistisch – so tun, als habe einer allein immer, und ausschließlich, und in allem recht. Als gebe es nur die eine Gewissheit; das eine Gesetz, das in der Gemeinde wortwörtlich umzusetzen ist. Wir müssen zusammenbleiben und beraten. Das meint auch Papst Franziskus, wenn er von „synodaler Kirche“ spricht. Wir müssen spüren, wo Gottes Geist in unserer Gemeinde weht. Und wir dürfen nicht vergessen, dass – wie der Apostel Paulus heute im Römerbrief sagt, dass allein „die Liebe die Erfüllung des Gesetzes“ ist.

Die menschgewordene Liebe, Christus, ist bei uns; und er bleibt bei uns. Auf diese Liebe können wir uns verlassen. Und auch wenn wir uns streiten um den rechten Weg: Das Heil hat schon begonnen. Wir sind bereits angenommen; wir sind geliebt. Der Herr ist bereits da. Und er befreit uns aus der Macht der Angst um uns selbst. Und Vielfalt in den Zugängen, in den Verständnisweisen, und auch in den Lebensformen, ist deshalb nichts Schlechtes, sondern ein Teil der Wahrheit, die der Herr selbst ist.

(Predigt zum 23. Sonntag im Jahreskreis A, 10.09.2023, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf und St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

Bild: privat

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