Viel hilft viel, könnte man aus diesem Evangelium schließen: Wenn du nur penetrant genug bist und Gott mit deinen Bitten nervst, dann kommst du garantiert zum Ziel. Aber stimmt das? Wie sehr sprechen doch unser Lebensgefühl und die Erfahrungen, die so viele machen, gegen eine solche, allzu simple, Sicht der Dinge; und doch schärft uns der Herr ein, nicht „nachzulassen und alle Zeit zu beten.“ (Lk 18,1)
Walter Kasper hat einmal gesagt: „Das Gebet ist der Ernstfall des Glaubens“.[1] Wie recht er doch hat! Gerade das Bittgebet. Denn jedes Gebet, so verschieden es auch sei, bezeugt die Hoffnung darauf, dass das, was ist, was sich zählen, messen und rechnen lässt, nicht alles ist; dass ein Sinn in allem Unsinn ist, der das, was ist, im Sein erhält und trägt; dass da ein Gott ist, der uns hört und der uns wohl will – auch wenn alle offensichtlichen Realitäten dieser Welt dagegen zu sprechen scheinen. Das Gebet ist der Ernstfall des Glaubens. Die Härte dieses Satzes zeigt sich gerade dann, wenn es nicht gut läuft; wenn Gebete anscheinend unerhört bleiben; wenn das ungerechte, sinnlose Leid schier unerträglich wird; wenn alles Flehen, alles Bitten und Beten ganz augenscheinlich nichts nützt.
Diese Erfahrung, dass mein Gebet eben nicht erhört zu werden scheint, dass noch so viel eben nicht viel hilft; dass Höchstleistungsfrömmigkeit allein noch nicht mein Christsein garantiert, diese Erfahrung muss Menschen (bestimmt nicht nur) heute, sondern auch schon zur Zeit der Abfassung des Lukas-Evangeliums umgetrieben haben.
Die ersten Gemeinden aus Juden- und Heidenchristen lebten vielerorts in Anfechtung und Unterdrückung. Und die Wiederkunft des Herrn, an die sie so fest glaubten, die blieb immer länger aus. Die Parusie verzögert sich.Der Glaube war herausgefordert; er drohte zu versanden. In diese Zeit des Suchens und Zweifelns hinein (und ich finde, unsere ist dieser Zeit in vielem ähnlich) lässt der Evangelist den Herrn seine Mahnung sprechen, allezeit zu beten und darin bloß nicht nachzulassen, sich nicht entmutigen lassen; nicht zu verstummen.
Das Evangelium hier illustriert diese Mahnung an der Witwe und dem ungerechten Richter. Manche Exegeten meinen, die Perikope könnte in ihrer Originalität – denn sie kommt nur hier vor – sogar auf den historischen Jesus selbst zurückgehen. Ob das nun stimmt oder nicht, ist letztlich egal. Entscheidend ist: Es ist die Geschichte eines ungleichen Paares. Ein Macht-Ohnmacht-Gefälle. Hier der Richter voller Macht, Ansehen und Status, in den besten Kreisen situiert. Dort die Witwe, die seiner Willkür schutzlos ausgeliefert scheint. Der Richter in seiner Selbstherrlichkeit ist eigentlich das Gegenteil eines Richters, wie ihn das Judentum vorsieht, denn er verletzt die beiden grundlegenden Tugenden des jüdischen, glaubenden Menschen, das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe, und zwar völlig skrupellos. Auf der anderen Seite: die Witwe. Auch ihr Stand ist, wie der des Richters, in der antiken Welt klar konturiert. Witwen als alleinstehende Frauen verkörpern (wie die Waisen) die Recht- und Schutzlosen, die Marginalisierten und vom Wohlwollen anderer schlechthin Abhängigen. Viele alttestamentliche Textstellen zeigen, dass gerade sie unter Gottes besonderem Schutz stehen. Und dieses Recht der Witwen, der Waisen, auch der Fremden zu beachten, genau dieses göttliche Gebot, den Schutz der Schwächsten, verletzt der Richter aufs Gröbste. Erstaunlich aber ist nun: das Verhalten der Witwe. Von Unterwürfigkeit oder Furchtsamkeit keine Spur. Nein, diese Frau bittet nicht, sie fordert ihr Recht lautstark und beharrlich ein. Mehr noch: Sie ist penetrant, aggressiv, distanzlos. Sie nervt. Sie nervt den Richter mächtig; und der hat nicht etwa ein Einsehen, sondern buchstäblich Angst, dass sie ihm ein blaues Auge verpasst und seine Würde herabsetzt, einen öffentlichen Skandal anzettelt. Er scheut Schmach und Schade.
Die Heilige Schrift verkündet hier (wie an so vielen Stellen) den Gott der Gerechtigkeit, dessen Gerechtigkeit aber rundweg Barmherzigkeit ist. Gott ist nicht einfach der jenseitige, kalte Weltenherrscher, sondern er ist parteiisch. Er steht auf der Seite der Witwen und Waisen – also der Schwachen und Kleinen, der Marginalisierten und Zukurzgekommenen, die Opfer.
Unwillkürlich müssen wir an die Opfer heute denken: die Obdachlosen, die Einsamen, die Hungernden – auch hier bei uns, in unserm bürgerlichen Wohlstand; vom Kampf um Menschenrechte, um die Rechte der Frauen mal ganz abgesehen. Denn auch das ist hier ja Thema; und ich muss an die unzähligen Missbrauchsopfer denken.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen und Euch geht: Mir begegnen seit geraumer Zeit Mitchristen, die sagen: Och, jetzt ist aber auch mal gut! Jetzt haben wir doch genug gehört von den Missbrauchsfällen. Jetzt lasst uns mal wieder zum Eigentlichen zurückkehren: zur frohen Botschaft! Da kann ich nur sagen: Nein! Die Opfer anzuhören, und wenn’s jeden Tag sein muss, das gehört zur frohen Botschaft. Das lernen wir hier aus dem Evangelium.
Heute ist auch Weihetag der Basiliken St. Peter und St. Paul in Rom: Wunderbare Glaubenszeugnisse, prächtige Kunstwerke – ohne Zweifel. Und wunderbare, zentrale Orte unseres Glaubens. Aber doch auch immer ein bisschen Zeichen einer triumphalen Kirche: Hüten wir uns – gerade heute – vor jeder Art Triumphalismus, vor „Pomp and Circumstances“!
Der frühere Generalobere der Jesuiten, Pedro Arrupe, für den gerade der Seligsprechungsprozess läuft und dessen Geburtstag sich diese Woche jährte, sagte einmal:
Das einzige Kriterium für die Kirche ist: „Unser Zeugnis muss glaubwürdig sein.“[2] Und glaubwürdig sind wir nur, wenn wir an der Seite der Armen stehen. Da kann ich als Diakon nur sagen: Lasst uns nicht entmutigt sein! Lasst uns – und wenn es noch so penetrant ist – auf der Seite der Notleidenden stehen! Lasst uns ihr Anwalt sein gegen die ungerechten Richter dieser Welt! Und lasst uns nicht nachlassen im Gebet und in der Hoffnung!
Dabei dürfen Gebet und die konkrete Hilfe für Notleidende aber kein Widerspruch sein. Im Gegenteil! Liturgie und Diakonie gehören aufs Engste zusammen. Genau dafür stehen wir Diakone ja. Nichts ist schlimmer als eine verselbständigte Liturgie; und nichts wäre nutzloser als ein Gebet, das nur individuelles Sprechen mit sich selbst ist. Das ganze Leben als Gebet nehmen, auch und gerade im Protest gegen Unrecht, Not und Leid – im Namen des Gottes der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit – gegen die Richter der Ungerechtigkeit unserer Zeit: Da wird das Gebet wirklich zum Ernstfall des Glaubens.
(Predigt am Samstag der 32. Woche im Jahreskreis, 18.11.2023, anlässlich des Herbstreffens der Ständigen Diakone des Erzbistums Berlin in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)
Anm.: Der ganze Text verdankt seinen Inhalt und große Teile seiner Formulierungen: Remenyi, Matthias: „Gebet des Lebens (Lk 18,1-8)“ In: Der Prediger und Katechet, 161. Jg., 6/2022, S. 765-769).
[1] Kasper, Walter: Einführung in den Glauben. Mainz 7. Aufl., 1983, S. 79f..
[2] Arrupe, Pedro: Unser Zeugnis muss glaubwürdig sein. Ein Jesuit zu den Problemen von Kirche und Welt am Ende des 20. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Karl Rahner. Schwabenverlag, Ostfildern, 2. Aufl., 1981.
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