„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“

Vorgestern, am 1. Dezember, habe ich wie jeden Tag im Deutschlandfunk Nachrichten gehört. Dort sagte der Moderator: „Heute ist der 1. Dezember, der Beginn der Weihnachtszeit“.

Was soll man da sagen? Soll man sich aufregen oder dünkelhaft sein und sagen: Nicht einmal die wissen mehr, was der Advent ist und wann der Advent ist. Oder soll man großzügig sein und denken: Liturgisch gehört der Advent zum Weihnachtsfestkreis, und der Sprecher war eben vielleicht besonders liturgisch geschult. Ich denke nicht. Ich denke, der Advent gerät einfach zunehmend in Vergessenheit. Und was uns dadurch verloren geht, davon möchte ich Ihnen gerne erzählen.

Zuallererst möchte ich Ihnen aber danken, dass ich heute zum zweiten Mal die Predigt am 1. Advent bei Ihnen halten darf. Es ist eine schöne, eine gute Tradition, dass Sie uns katholische Geschwister gerade am Ersten Advent willkommen heißen; gerade heute uns „die Tür“ öffnen; aber im Grunde ja eigentlich immer willkommen heißen, wie wir umgekehrt Sie und Euch. Denn Geschwister im Glauben – nichts anderes sind wir ja. Geschwister! Die hat man sich nicht ausgesucht; die versteht man vielleicht auch nicht immer und teilt nicht immer deren Ansichten, und manchmal tragen Geschwister etwas merkwürdige Kleidung, aber im Grunde mag man die Geschwister, weil sie zur selben Familie gehören. Als Christinnen und Christen sind wir alle Geschwister; gehören zu einer Familie. Deshalb also:

Liebe Schwestern und Brüder!

Wir beginnen gemeinsam den Advent; wir warten auf das Kommen Christi, wie wir auf einen guten Freund warten, auf dessen Kommen wir uns freuen, den wir sehnsüchtig erwarten; jedes Jahr wieder. Und heute am 1. Adventssonntag warten wir auf ihn, indem wir den Psalm 24 lesen:

„Die Erde ist des HERRN, und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet, und über den Wassern bereitet. Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge, und nicht schwört zum Trug: der wird den Segen vom HERRN empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils. Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs. Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit. Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.“ (Psalm 24, nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 2017)

Ein gewaltiger Text. Wortgewaltig und schön in Luthers Übersetzung. Uns ist dieser Psalm ja vor allem so vertraut durch die Nachdichtung von Georg Weissels; nicht zu Unrecht das Adventslied Nummer 1 im Gesangbuch „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit!“ (Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, 2018). 

Aber nicht nur wortgewaltig ist dieser Psalm, auch sein Inhalt: Gewaltig! Für die Hebräer war dieser Psalm der Kurzfassung ihrer ganzen Tempeltheologie. „Er feiert den Herrn als Schöpfer und Erhalter seiner Erde, der auf dem Berg Zion seine Residenz hat und dort erscheint, um denen, die ihn suchen, Segen und Heil zu schenken.“ (Erich Zenger: Psalmen. Auslegungen in zwei Bänden. II, 591, 2. Aufl., Freiburg 2011). Wohlgemerkt: seiner Erde. Wir sind ja eher versucht zu denken, dass die Erde und alles, was ist, eigentlich uns gehört. Vielen ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass diese Erde uns zwar anvertraut ist, aber nicht zur maximalen Ausbeute, zur Gewinnmaximierung. Heute haben viele, besonders in den mächtigen Staaten, ja eine Mentalität entwickelt, in der sich der Mensch eben nicht mehr als Teil der Schöpfung versteht; in der eigentlich alles, was ist, nur noch Material und Ressource für uns Menschen ist.

Wenn jetzt gerade wieder die Welt-Klimakonferenz tagt, dann geht’s ja nicht nur um konkrete Maßnahmen zur Senkung der Erderwärmung.

Es geht genauso darum, ob wir weiter in der „Vorstellung eines Menschen ohne jegliche Grenzen“ leben wollen, in der trügerischen Hoffnung, alle Probleme könnten durch immer größere menschliche Machtentfaltung gelöst werden. (vgl. Papst Franziskus: Laudete Deum, 2023)

Psalm 24 lehrte die Hebräer, und er lehrt uns, dass die Erde und alles, was ist, eben Gottes Eigentum ist, nicht das des Menschen und schon gar nicht einzelner Herrscher und Nationen. Man darf nicht vergessen: Der Psalm entstand im babylonischen Exil Israels. Und da war‘s durchaus gefährlich, die Eigentumsfrage so zu beantworten: Dass eben alles dem Gott Israels gehört und nicht den Herrschern Babylons.

Und dann spricht Psalm 24 vom Zutritt in den Tempel: „Wer darf stehen an seiner heiligen Stätte; wer darf zum Berg des Herrn gehen?“ Und auch hier ist der Psalm wieder klapp und klar: „Nur wer unschuldige Hände u. ein reines Herz hat.“ Wer wirklich Gott sucht und nicht auf Kosten der anderen lebt. Nicht anderes heißt es, wenn Luther übersetzt: „Wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug.

Dieser Psalm sagt den Hebräern, und er sagt uns, wie wir leben sollen, worauf wir unser Leben bauen sollen: auf Gott, auf den Dienst an den Mitmenschen, auf Barmherzigkeit. Er zeigt uns, wie sehr wir auf Ethik, auf Glaube und Spiritualität angewiesen sind, wenn wir das Leben erhalten wollen. Denn ohne sie wird uns der würde- und liebevolle Umgang miteinander und mit der Schöpfung unmöglich. Das alles finden wir in Psalm 24.

Und wir finden den, den wir unsern König nennen. Für uns Christen verweist Psalm 24 vor auf Christus, den König, dem wir die Tore weit machen sollen „und die Türen in der Welt hoch“. Auch das gewaltig! Christus ist für uns der König, der Herrscher der Welt; der Anfang und das Ziel von allem, was ist; das A und O.

Genau darum geht es im Lied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“: Da kommt unser König; er zieht ein in die Stadt – als König. Wir Christen glauben: Er ist nicht nur der Ursprung von allem, weil er von Anfang an war: das Wort, das bei Gott war; das Wort, durch das alles erschaffen ist. Er ist auch das Ziel, auf das alles zuläuft. Der große Teilhard de Chardin nannte Christus einmal den Punkt „Omega“, das Ziel des Universums; von allem, was ist. Und auch von uns selbst: Wir haben unser Ziel in Jesus Christus; denn unser Leben endet nicht im Nichts, so glauben wir, sondern in Christus. Er erwartet uns am Ende aller Zeit.

Und bis dahin? Wir haben es eben gehört. Es kommt darauf an, was wir in unserem Leben tun, ob wir unschuldige Hände haben und ein reines Herz. Es kommt darauf an, ob wir Not sehen und Gutes tun, oder ob wir wegschauen. Ob wir für andere da sind, oder nur für uns selbst. Öffnen wir unser Herz! Lassen wir zu, dass uns die Not dieser Welt berührt. Öffnen wir ihm unser Herz! Gerade im Advent!

Darum geht’s doch: Lassen wir ihn einziehen in uns, unser Herz und unser Denken! Lassen wir ihn unsern König und unsern Helfer sein! Denn nur er bringt, wie es im Adventslied heißt, „all unsre Not zum End“. Er zeigt uns, wie schon Psalm 24, wie unser Leben gelingt, wie wir „den Weg zur ew‘gen Seligkeit“ finden. Das klingt für unser heutiges Ohr vielleicht ein bisschen pathetisch, aber es ist so: Christus unsern „König“ sein lassen, heißt doch nichts anderes, als uns von ihm leiten lassen – auf unserem Weg zum Nächsten, ihm nachzufolgen und zu spüren, dass er uns aus der Macht der Angst um uns selbst befreit; dass er uns die Fülle des Lebens schenkt.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch eine neuere, wundervoll poetische und doch sehr klare Übersetzung des Psalms 24 vortragen. Sie stimmt von dem niederländischen Theologen und Dichter Huub Oosterhuis (Psalmen, Freiburg 2014, 58f., ins Deutsche übertragen von Annette Rothenberg-Joerges):

Von wem ist die Erde? Von Gott,
vom Ich-werde-sein-der-Ich-bin
ist die Erde in vollem Umfang.

Von Ihm sind ihre Tiefen, ihre Zukunft.
Er hat sie gegründet auf Meeren,
an Strömen auf Dauer verankert.

Wer darf seine Höhe erklimmen,
wer steht mit erhobenem Haupt in seinem Hause?
Menschen mit redlichen Händen.

Menschen mit lauterem Herzen,
abseits von Schein und Lügen,
unbescholten, voller Licht.

Die tun das Gute, das getan werden muss –
von der Art, die fragt und kämpft um Ihn,
Ihn sehen will mit eigenen Augen.

Pforten, hebt eure Häupter empor!
Öffnet weit auf, ihr ewigen Tore!
Hier kommt der Ewige, der Leuchtende.

Wer ist der Ewige, der Leuchtende?
Es ist Er, der kämpft für Gerechtigkeit,
Er ist der Gott der Armen, der Starke.

Pforten, hebt eure Häupter empor!
Hier kommt Er, der Gott der Armen,
der Starke, der Ewige, der Leuchtende.

Wer Er, der Starke, der Leuchtende?
Der uns schuf und der rief zur Gerechtigkeit,
unser Gott, der Ewige, der Leuchtende.

 

(Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zum 1. Adventssonntag, 3.12.2023, in der Evangelischen Dorfkirche Berlin-Lübars)

Bild: privat

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