Es gibt das Böse, und es gibt den Bösen. Und machen wir uns nichts vor: Niemand von uns ist davor völlig gefeit. Wir würden es heute nicht mehr „Beélzebul“ nennen oder so wie in der Bildsprache des Buches Genesis (vgl. die erste Lesung des heutigen Sonntags). Aber immer wieder sind wir doch alle versucht, Böses zu tun, und sei es nur dadurch, dass wir auf andere herabblicken, sie schlechtreden, uns selbst für besser halten, für klüger, für reicher, für frommer; indem wir herzlos sind und lieblos; und selbstgewiss sind, wie stark wir doch sind, viel stärker als diese oder jener.
Jesus war nicht stark, nicht herzlos, nicht lieblos. Im Gegenteil: Im Evangelium vom heutigen Sonntag hören wir, dass selbst seine Verwandten ihn wohl für ein wenig verrückt hielten und glaubten, ihn vor sich selbst schützen zu müssen. Aber das Evangelium zeigt uns: Wenn Jesus „verrückt“ ist, dann doch nur so, dass er unsere Gewohnheiten, gerade die schlechten, ver-rückt und uns so daraus befreit; aus unserer Selbstgewissheit und der Macht der Angst um uns selbst befreit.
Die Menschen spürten das, und deshalb rannten sie ihm die Bude ein, wie wir heute im Evangelium hören. Den Mächtigen gefiel das sicher gar nicht, denn sie glauben durch Jesus ihre Macht in Gefahr, und deshalb muss er weg. Schon sehr früh! Wir sind hier erst im 3. Kapitel des Markus-Evangeliums, und schon da glauben die Mächtigen, ihn los werden zu müssen.
Wenn wir uns fragen, was ihn denn so suspekt macht, so bedrohlich, so dass man ihn mit dem Bösen im Bund sieht oder für verrückt hält, dann finde ich: Weil er zeigt, wie verletzlich wir Menschen sind, wie verwundbar, wie unsicher. Und das nicht für einen Makel hält, den wir los werden müssen. Nein! Verwundbarkeit ist das, was uns zu seinen Geschwistern macht. Nicht Überlegenheit und Selbstgewissheit! Die Szene hier schließt sich (bei Markus) an viele Heilungsgeschichten an, wo Jesus von sich sagt: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder“ (Mk 2,17).
Und am Schluss des heutigen Evangeliums hören wir dann diese alles entscheidende Frage: Wer sind wirklich Geschwister für Jesus?
„Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3,34 f.).
Wer den Willen Gottes tut; nicht schon, wer durch bestimmte Prädikate ausgezeichnet ist. Und wie tun wir den Willen Gottes? Doch auf alle Fälle indem wir Jesus unser Herz prägen lassen; ihm nachfolgen; indem wir uns auf den Weg machen, in seinem Geist zu sein. Nicht, indem wir behaupten: Wir haben schon alles gefunden, wir müssen‘s nur festhalten. Nein! Offen zu sein, was er uns sagen will. Hinhören! Menschen unabgeschlossenen Denkens zu sein. Offen zu sein heißt nicht: beliebig zu sein, relativistisch. Wenn wir uns mit Jesus auf den Weg machen, Gottes Willen zu tun, können wir nicht sagen: Jetzt hab ich’s, und das halte ich fest – auf Biegen und Brechen! Wir müssen versuchen, in die Freundschaft mit ihm hineinzuwachsen; sie zu üben. Das ist ein Prozess.
Uns immer wieder zu sagen: „Jesus, ich möchte dich besser kennenlernen; ich möchte dich echter lieben; ich möchte dir tiefer nachfolgen.“ (Vgl. Felix Körner in: Podcast Die Edenhoferin, 5.5.2023). Das ist ein Prozess, der unser ganzes Leben als Christen umfasst. Natürlich wissen wir nicht, wie unser Leben verläuft und was die Zukunft bringt. Aber ich glaube fest daran: Der Herr will auch uns heute etwas sagen. Er will uns zeigen, was wir erhalten, wenn wir seinen Weg mitgehen: Die Befreiung aus der Macht der Angst um uns selbst. „Der Glaube bastelt ja nichts auf die Welt drauf, sondern lässt die Wirklichkeit in einem neuen Licht sehen, nämlich im Licht der Hoffnung” (vgl. Annette Edenhofer, ebd.).
Die Unsicherheit, in der wir als Menschen leben, kann zur Offenheit für Hoffnung werden. Es geht nicht darum, nur an etwas festzuhalten oder nur zu beklagen, dass früher alles besser war. Es geht darum, auf ihn zu hören; und wie er für andere offen zu sein, für andere da zu sein.
Vorgestern war das Herz-Jesu-Hochfest. Viele mögen heute diese Frömmigkeit als kitschig und altbacken empfinden. Ich finde es ein wunderbares Bild: Wenn ich jemand mein Herz schenke, dann sagt das doch nichts anderes als: Ich schenke (ihr oder ihm) das Kostbarste, was ich habe: mich selbst, meine Liebe.
Gott schenkt uns sein Herz, sein Innerstes, seine Liebe, indem er uns Christus schenkt. Und wir müssen einfach nur versuchen, uns dieser Liebe zu öffnen. Ich glaube, mehr will er gar nicht von uns. So zu leben, wie ER es uns vorlebt; so wie Jesus selbst es gelebt hat. Und das gilt für uns alle; nicht nur für diejenigen, die quasi „professionell“ in seinem Dienst stehen, die Amtsträger, die Bischöfe, Priester, Diakone, Ordensleute und die vielen Seelsorgerinnen und Seelsorger als “Profis des Glaubens”. Natürlich gilt das für uns alle. Da kann man nicht für sich sagen: Das sollen mal die Amtsträger machen, so zu leben, wie es Gottes Wille ist.
Zu den Amtsträgern hat Papst Franziskus diese Woche gesagt: „Die überwältigende Mehrheit der Priester arbeitet mit enormer Großzügigkeit und einem ebensolchen Glaubensgeist für das Wohl des Gottesvolkes, unter vielen Mühen und Herausforderungen, die manchmal nicht einfach sind und denen sich die Seelsorger bei ihrer täglichen Arbeit stellen“ (vgl. https://www.vatican.va/content/francesco/it/speeches/2024/june/documents/20240606-plenaria-dicastero-clero.html).
Ich finde, der Papst hat völlig recht. Freundlicherweise sagte der Papst, dass das auch für Ständige Diakone gilt. Aber bei aller Verschiedenheit der Aufgaben und Berufungen: Es gilt für uns alle. Wir müssen uns gemeinsam auf den Weg machen, Gottes Willen zu tun, indem wir aufeinander hören, und auf ihn hören, auf Christus.
Diese Woche bin ich gefragt worden, ob ich glaube, dass wir eine Zukunft haben. Die einzige Zukunft, an die ich glaube, heißt Jesus Christus. Und ich glaube, dass es Hoffnung gibt; eine Hoffnung, die unser ganzes Leben tragen kann, auch durch alles Leid. Diese Hoffnung ist nichts Theoretisches, Abstraktes oder nur ein frommes Wort. Sie wird ganz konkret – Tag für Tag – in dem, wie wir leben, wie wir aufeinander hören, wie wir auf ihn hören. Nur durch diese Hoffnung werden wir zu seinen Geschwistern, zur Familie Jesu.
Wenn heute nicht gerade Sonntag wäre, würden wir heute des Heiligen Ephräm des Syrers gedenken. Der lebte im 4. Jahrhundert in Anatolien und war Diakon; und ist (nicht nur) für die Ostkirche ein wichtiger Kirchenlehrer. Von ihm stammt ein Gebet:
„Herr und Gebieter meines Lebens, den Geist des Müßiggangs, des Kleinmuts, der Machtverliebtheit und der Geschwätzigkeit gib mir nicht. Den Geist aber der Besonnenheit, Demut, Geduld und Liebe schenke mir, deinem Knecht. Ja, Herr, König, schenke mir, meine Fehltritte zu sehen und meinen Bruder nicht zu verurteilen; denn du bist gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen“ (Vgl. https://www.abtei-niederaltaich.de/spiritualitaet/ostkirchliche-gebete/gebet-des-heiligen-ephraem).
(Predigt zum 10. Sonntag im Jahreskreis B, 08.06.2024 in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)
Bild: Pompeo Batoni, Heiligstes Herz Jesu, 1760, Il Gesú, Rom
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