“Warum habt ihr solche Angst?”

Evangelium

Warum habt ihr solche Angst?“ (Mk 4,40) Das fragt Jesus seine Jünger im Sturm auf dem See, und das fragt er uns. Denn wie oft in unserem Dasein haben auch wir diese Angst und denken: Kümmert es ihn denn nicht?

Wir wissen, und haben es eben wieder in der ersten Lesung im Buch Hiob gehört: Der Sturm, die Naturgewalten, Wind und Meer, das alles wussten die Menschen der Antike in Gottes Hand. Er ist es, der über sie gebietet. Uns heutigen, wissenschaftlich Aufgeklärten fällt es schwer, hinter den Vorgängen der Natur einen göttlichen Willen zu sehen. Und so glauben wir, wir könnten und müssten uns allein vollständig schützen, und alles, was um uns herum passiert, weitestgehend sichern, und wenn das nicht möglich ist, wenigstens versichern, damit uns nichts Schlimmes widerfährt.

Und doch bleibt immer diese tiefe Grundangst um uns selbst. Sie gehört zum Menschsein. Es wird schwerlich einen Menschen geben, der völlig angstfrei lebt, immer und überall angstfrei. Spätestens, wenn wir im Flugzeug sitzen oder eben auf hoher See im Sturm, und es turbulent wird, werden auch die „härtesten Kerle“ mit Sicherheit ängstlich werden. Das ist nur allzu menschlich und auch natürlich.

Angst gehört zur Menschennatur einfach dazu. In der Entwicklungsgeschichte des Menschen war sie immer wieder ein enorm wichtiger Überlebensfaktor. Wenn man in der Steppe wilden Tieren begegnete, war die Angst, und der Impuls sich zu schützen, allemal lebensrettend. Eigentlich müssten man – psychologisch korrekt – differenzieren zwischen Angst und Furcht. Furcht ist konkret, wir fürchten uns vor konkreten Dingen, vor Situationen, vor Tieren und auch Menschen. Das sichert unser Überleben.

Angst ist psychologisch viel allgemeiner und diffuser. Letztlich ist die Angst immer tief in uns drin und hat nicht nur mit der konkreten Situation zu tun, wie hier dem Sturm auf dem See. Da „fürchtet“ man sich eher – nämlich zu kentern, unterzugehen. Auch wenn der Übergang fließend ist: Die tiefe Angst in uns gilt immer unserem Leben, unserer Existenz, unserem Dasein. Und genau das macht den Jüngern im Sturm ja Angst: Angst ums eigene Leben. Und Jesus sagt: „Warum habt ihr solche Angst?“, nicht warum fürchtet ihr euch vor dem bisschen Sturm? Er weiß um die Grundangst im Menschen. Deshalb fügt er den entscheidenden Satz hinzu: „Habt ihr noch keinen Glauben?

Es gibt im Deutschen das schöne Wort „Heidenangst“. Genau darum geht’s hier. Wenn ich diesen Glauben, dieses Vertrauen in Jesus nicht habe, noch nicht habe oder haben kann, dann habe ich: Heidenangst. Denn dann weiß ich: Mein Leben, meine Existenz, mein Dasein ist bedroht, immer und überall, und nichts auf dieser Welt, keine Sicherung und keine Versicherung, kann mir diese Angst um mich selbst letztlich vollständig nehmen.

Nur wenn ich glaube, dass ER bei mir ist, so wie hier im Boot; dass gilt, was er sagt, dass sein Wort gilt: „Ich bin bei euch alle Tage“ (Mt 28,20), nur dann kann ich das Vertrauen haben, auf ihn, ganz auf ihn mein Leben zu setzen und auch mein Sterben; denn nur ER befreit mich aus der Macht der Angst um mich selbst. Wenn ich dem glaube, wenn ich ihm vertraue, brauche ich keine „Heidenangst“ zu haben, und wir alle wissen, wie schwer das ist. Genau deshalb sagt er es auch zu uns, nicht nur zu den Jüngern.

Wahrscheinlich, wenn wir ganz genau in uns hineinhorchen, spüren wir, dass ER es jeden Tag zu uns sagt: „Warum habt ihr solche Angst?“ Denn fast jeden Tag gibt es doch für uns alle Situationen, die uns ängstigen: im Straßenverkehr, im Beruf, mit anderen Menschen, oder dann wenn’s gravierender wird: wenn es um unsere Gesundheit geht; wenn wir älter werden; und schließlich: wenn es ans Ende dieses Lebens geht.

Seit ich Diakon bin und auch schon davor, habe ich einige Menschen beim Sterben begleitet. Und es geht nicht nur mir so, es ist auch wissenschaftlich belegt, dass die große Mehrheit, wenn’s aufs Sterben zugeht, von tiefen Ängsten geplagt wird. Wenigen ist es vergönnt, ganz friedvoll und angstfrei zu sterben. Auch das ist wohl nur allzu menschlich. Und natürlich ist es schwer, dieses Vertrauen in IHN aufzubringen, dass ER da ist und nicht schläft, und wir ganz auf ihn bauen können, und nichts, aber auch gar nichts uns von seiner Liebe trennen kann, auch der eigene Tod nicht.

Niemand weiß vorher, wie er oder sie selbst in dieser Situation sein wird. Da geht es uns wie den Jüngern. Wie viele denken da: Kümmert es dich gar nicht, dass ich zugrunde gehe?

Auf IHN zu bauen und zu vertrauen, ist schwer, wenn’s brenzlig wird. Ohne Zweifel!

Und die Kirche? Sie sollte ja da sein, um zu versuchen, den Menschen diese Angst zu nehmen. Denn das ist Seel-sorge, „cura animarum“, unser Auftrag: Dafür zu sorgen, Seelen von der Angst zu befreien. Und wie oft waren (und sind) leider auch die Kirchen Orte der Angst? Wie viele Menschen wurden durch uns „Kirchenmänner“ in Angst gestürzt? Stattdessen sollten wir das Evangelium verkünden, die frohe, befreiende, von der Angst befreiende Botschaft Jesu, der uns sagt: Habt ihr so wenig Glauben, dass ihr solche Angst haben müsst?

Vielleicht haben Sie, als Sie eben hier in St. Hildegard zur Kirche reingekommen sind, darauf geachtet: Genau gegenüber vom Eingang in den Kirchenraum (draußen im Flur) hängt dieses wunderbare Bronze-Relief von Paul Brandenburg. Spätestens, wenn Sie nachher rausgehen, sehen sie es.

Es zeigt genau diese Situation hier im Sturm auf dem See. Die Jünger im Boot, und wie unterschiedlich die ausschauen und wie verängstigt. Und Jesus streckt (bildlich) die Arme aus und stillt den Sturm. Er ist da; er ist da für uns; hier und jetzt. Auch hier in diesem Raum und draußen.  Ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist, dass das Relief genau an dieser Stelle hängt – gegenüber der Tür. Genau gegenüber von IHM hier. Dort die Angst, hier ER.

Wenn wir uns ihm zuwenden, können wir die Angst überwinden; werden wir aus der Macht der Angst um uns selbst befreit, dieser Ur-Angst von uns Menschen.

Ich hab’s schon einmal gesagt und werde es wahrscheinlich noch oft erzählen: Letztens wurde ich gefragt, ob ich glaube, dass wir eine Zukunft haben. Darauf kann ich nur antworten: Die einzige Zukunft, an die ich glaube, heißt Jesus Christus. Auf IHN gehen wir zu; mit unserem kleinen Leben wie mit unserer großen Welt; mit allem, was ist. Denn wir gehen nicht auf ein Ende zu, sondern auf Vollendung. So wie Romano Guardini es sagte: Geborgenheit im Letzten gibt Gelassenheit im Vorletzten.

(Predigt zum 12. Sonntag im Jahreskreis B am 22.6.2024 in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

Bild: Paul Brandenburg, Christus stillt den Sturm auf dem See. Bronze, St. Hildegard, Berlin-Frohnau.

Foto: privat

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