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Letzten Sonntag haben wir im Evangelium gehört, was Nachfolge bedeutet, Jesus nachzufolgen, ihm ähnlich zu werden, immer ähnlicher zu werden, nämlich zum Diener zu werden; für die Mitmenschen da zu sein; für diejenigen, die in Situationen der Angst sind, des Schmerzes, der Entmutigung, der Einsamkeit; ihnen die Hand zu reichen, zärtlich, so wie Jesus, der der Diener aller geworden ist (vgl. Mk 10, 35-45).
In der Kirche hören wir ja oft: Wir sind alle nur Diener. Aber die Jünger Jesu zeigen uns im Evangelium letzten Sonntag – wie wir Menschen so sind: Diener schon, aber wenn’s geht, dann doch bitte auf einem herausgehobenen Posten.
Wir dürfen nicht vergessen: Jesus ist an dieser Stelle des Evangeliums auf dem Weg nach Jerusalem. Dreimal hat er angekündigt, was dort mit ihm geschehen wird: Verurteilung, Erniedrigung, Folter, der Tod am Kreuz, und die Jünger haben nichts Besseres zu tun, als um die besten Plätze zu streiten; wer ganz vorne dabei ist; wer Chef wird, so wie letzten Sonntag.
Jesus aber dreht das alles um. Er zeigt uns, wie wir wirklich Diener sind. Denn er hört den Schrei der Armen, hier den Schrei des blinden Bartimäus. Er weist ihn nicht ab, auch wenn der die anderen ziemlich zu stören scheint.
Mich würde interessieren, was sich Bartimäus wohl gedacht hat, als Jesus stehenblieb und ihn zu sich rief. Das muss doch ein Schock gewesen sein: Der Moment im Leben, der entscheidende, der alles verändert. Die Griechen nannten das den Kairos. Wenn mein Leben die entscheidende Wendung erfährt, so wie Bartimäus, weil er auf Jesus vertraut, weil er ihm glaubt. Und Jesus stellt ihm die wichtigste Frage aller Seelsorge: „Was willst du, dass ich für dich tue.“ (Mk 10, 51)
Bartimäus will sehen, und er folgt Jesus nach, weil er plötzlich sieht; weil er erkennt, wer Jesus ist; weil er spürt, wie Jesus für ihn zum Retter, zum Heil-and und zum Diener an seinem Leben geworden ist. Deshalb folgt er ihm nach. Denn um Nachfolge geht’s auch hier.
Ich würde Ihnen heute gerne von jemand erzählen, einer Frau, die auf ihre Weise Nachfolge gelebt hat: Madeleine Delbrêl. Vor genau 60 Jahren ist sie gestorben, kurz vor ihrem 60. Geburtstag.
Madeleine Delbrêl stammte aus einfachen, aber nicht ärmlichen Verhältnissen und aus einem durch und durch antikirchlichen Milieu. In Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das ja nicht unüblich. Mit 16 war sie, wie sie sagte, überzeugte Atheistin. Sie studierte in Paris Philosophie und Kunst, und während des Studiums lernte sie einen Mann kennen, in den sie sich verliebte. Doch ihr Freund war Christ, und so kam sie durch ihn zum ersten Mal in Kontakt mit einem (ganz praktisch) gelebten Christsein.
Dann entschied sich ihr Verlobter, Dominikaner zu werden, und noch dazu erkrankte ihr Vater schwer. Das alles stürzte sie in eine tiefe Sinnkrise – bis hin zu Selbstmordgedanken. Und in dieser Situation, so schreibt sie, entschloss sie sich zu beten, denn zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens, sagte sie, konnte sie nicht mehr hundertprozentig ausschließen, dass Gott nicht doch da ist.
Im Gebet aber erfährt sie Gott als eine lebendige Realität, nicht als bloßes Wort, über das wir nachdenken können und es ablehnen oder gutheißen können. Nein, als wirkliche Realität in ihrem Leben erfährt sie Gott. Und sie spürt, dass dieser Gott nur eins will: dass sie ihren Mitmenschen seine Liebe zeigt. Ganz konkret!
Sie wird Sozialarbeiterin, und sie zieht nach Ivry-sur-Seine, einem „Arbeiter-Vorort“ von Paris. Ivry war die erste Stadt in Frankreich, die einen kommunistischen Bürgermeister hatte, und das ist bis heute so geblieben.
Madeleine will in Ivry eine Sozialstation aufbauen und sich um die Not der Arbeiterfamilien kümmern. Wir reden hier über eine Zeit, in der es in Frankreich noch keine 35-Stundenwoche gab, kein Arbeitslosengeld, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Sie lebt dort in einem völlig kirchenfernem, anti-christlichen Milieu. Aber genau dort sie will das Evangelium leben.
Mit zwei Frauen gründet sie eine Gemeinschaft, die ohne Gelübde und Klausur mitten in der atheistischen Arbeiterstadt das Evangelium leben wollen. Wie sie sagt, weil es nur eine einzige Liebe gibt. Es gibt für sie keinen Unterschied zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es in Frankreich das Experiment der Arbeiterpriester und der Mission de France, und Madeleine Delbrêl schafft es, bis zu Pius XII. vorgelassen zu werden, bei dem sie sich für diese Lebensform einsetzt. Ein Bischof bittet sie sogar im Auftrag von Johannes XXIII., an der Vorbereitung des II. Vatikanischen Konzils mitzuwirken.
Während des Konzils, 1964, stirbt sie im Alter von nur 59 Jahren an einem Schlaganfall.
Madeleine Delbrêl sagte, sie habe Jesus auf den Straßen der Großstadt gefunden, und je mehr sie mit den Lebensumständen der Arbeiter in Berührung kam, umso weniger konnte sie die Gleichgültigkeit vieler Christen über deren Not akzeptieren. Sie sagte: Gott ist nicht nur ein Wort, er ist die praktizierte Nächsten- und Feindesliebe, und die ist konkret.
„Wir [Christen] treten nicht wie Gerechte unter die Sünder, wie Leute, die ein Diplom erlangt haben unter Ungebildete, wir kommen, um von einem gemeinsamen Vater zu reden, den die einen kennen, die anderen nicht.“
Warum erzähle ich Ihnen das alles, noch dazu am Sonntag der Weltmission?
Natürlich, weil es auch hier um Mission geht, um richtig verstandene Mission, um Nachfolge. Bedauerlicherweise ist Madeleine Delbrêl – gerade hier bei uns – immer noch viel zu unbekannt. Aber immerhin gibt es einen Seligsprechungsprozess für sie, und Papst Franziskus hat ihr in diesem Prozess den Rang einer „Ehrwürdigen Dienerin Gottes“ zuerkannt, die Stufe vor der Seligsprechung.
Vor allem aber, weil Madeleine Delbrêl für Christen, die heute (sagen wir) in Berlin leben oder eben in Paris oder sonst wo, wo man das Gefühl hat, die Kirche ist auf dem absteigenden Ast, dass gerade uns Christen Madeleine Delbrêl zeigt, wie heute Nachfolge Jesu aussehen kann: nämlich den Schrei der Armen zu hören, so wie Jesus es bei Bartimäus tat. Sie wollte auf der Straße das Evangelium leben mit den ganz normalen Menschen, mit ihren Sorgen und Ängsten, in ihrer Einsamkeit; Menschen, die vielleicht noch nie etwas von Christus gehört haben.
Und sie wollte den (manchmal stummen) Schrei nicht überhören. Und mit ihnen Hoffnung leben und ihnen zeigen: Für Dich ist Jesus Diener geworden. Für Dich! Nicht nur für die Frommen!
Bei der Beerdigung von Madeleine Delbrêl sagte der kommunistische Bürgermeister von Ivry: „Ich glaube auch jetzt noch nicht an Gott, aber wenn es ihn gibt, trägt er die Züge von Madeleine.“
(Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis B, Weltmissionssonntag, am 19.10. in St. Hildegard, Berlin-Frohnau, und am 20.10.2024 in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)
Bild aus: Annette Schleinzer: Gott einen Ort sichern. Impulse aus der Begegnung mit Madeleine Delbrêl, 9. Januar 2018. In: Feinschwarz, Theologisches Feuilleton. https://www.feinschwarz.net/gott-einen-ort-sichern-impulse-aus-der-begegnung-mit-madeleine-delbrel/
Zum Ganzen vgl. auch:
– Gotthard Fuchs: Mystik der Straße. Zum 60. Todestag von Madeleine Delbrêl. DLF-Kultur 13.10.2024, zitiert nach: https://fernsehen.katholisch.de/katholische-horfunkarbeit/feiertag-deutschlandfunk-kultur/feiertag-1310202
– Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl Prophetin für eine erneuerte Kirche. Impulse für Realisten. München: Verlag Neue Stadt, 3. Aufl. der Neuausgabe, 2023.