Eine „heile“ Familie scheint die heilige Familie nicht gewesen zu sein. Unser bürgerliches Ideal einer heilen Welt spiegelt sie jedenfalls nicht wider. Der zwölfjährige Jesus geht in der Menge verloren. Seine Eltern bemerken es erstmal gar nicht, weil man zu dieser Zeit ja in großen Sippen reiste und nicht in der Kleinfamilie: Vater, Mutter, Kind, und als sie sich dann sorgen und ihn wiederfinden, macht seine Mutter ihm erstmal Vorwürfe: Wie konntest du uns das nur antun, und er reagiert kurzangebunden – wie Pubertierende so sind: Warum machst du dir eigentlich Sorgen? Weißt du nicht? Man könnte darin hören: Kapierst du eigentlich gar nichts? Nicht gerade idyllisch und heile Welt.
Aber ein Idyll waren auch die Geburtserzählungen an Weihnachten nicht. Auch wenn wir manchmal dazu neigen, daraus so ein nettes, harmloses Bild mit Stall und Tieren und glücklicher Familie zu machen. Es war eine Geburt in Not und Elend.
Wenn wir also heute das Fest der Heiligen Familie feiern, feiern wir nicht die „heile“ Familie, wo es keinen Stress gibt, keine Sorgen, keine Not. Dieses Fest will uns auch nicht mit einem unerreichbaren Ideal von Familie einschüchtern. Es will uns, finde ich, zwei Dinge zeigen: Wer Jesus in Wahrheit ist und welche Bedeutung Familie für unser Menschsein und Christsein hat.
Die Familie Jesu vollzieht die für Juden damals üblichen Bräuche: den Tempelbesuch am Pessach, und dabei geht der Zwölfjährige in der Menschenmenge verloren. Alles ganz menschlich. Und doch: Das, was wir im Evangelium lesen, ist keine Reportage, wie in einem Dokumentarfilm. Als ob es sich genauso abgespielt hat. Niemand weiß, wie es genau gewesen ist. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Dieser Text will uns nicht sagen, wie sich die Ereignisse damals genau zugetragen haben, sondern: Was für den Glauben derjenigen, die ihn aufgeschrieben haben und die ihn zuerst hörten, wichtig ist. Biblische Texte sind immer Glaubenszeugnisse, nichts sonst.
Das Evangelium will uns zeigen, wer Jesus in Wahrheit ist, und dass seine Mutter genau das versteht und sich zu Herzen nimmt. Dass er der Sohn Gottes ist, der Messias, der Christus, auf den die Juden so lange gewartet haben; der Retter und Erlöser aller Menschen.
Deshalb muss er in dem sein, was seines Vaters ist; also genau dort, wo es um Gott geht. Das Entscheidende ist die Aussage Jesu über sich selbst: Er muss immer dort sein, wo es um die Sache Gottes geht. Denn er zeigt uns Gott, so wie er ist.
Die Botschaft von Weihnachten ist doch: In diesem Jesus ist der unbegreifliche Gott ein Mensch geworden, damit wir ihn erkennen, Es ist ein Mensch wie wir geworden,, nicht in den Palästen der Reichen und Schönen, nicht als König mit Schwert und all dem Pomp, wie wir uns einen Herrscher so vorstellen. Auch nicht in der heilen bürgerlichen Kleinfamilie, sondern in Armut und am Rand der Welt.
Er tritt in die Welt ein, und zwar in die Welt der Menschen, die leiden und in Not sind, und das aus einem einzigen Grund: Damit wir erfahren können: Gott ist bei uns, er ist für uns da, nicht irgendwo im Jenseits, sondern unter uns; hier und jetzt. Und er befreit uns aus der Macht der Angst um uns selbst; jede und jeden Einzelnen von uns, wenn wir nur bereit sind, uns auf ein einzulassen und seinen Weg mitzugehen.
Wir alle haben Erinnerungen an Weihnachten in unserer Kindheit. Die meisten werden gerne daran zurückdenken. Manche vielleicht auch mit Wehmut und einige haben auch schlimme Erinnerungen – natürlich. Aber Weihnachten lässt niemanden kalt. Und wenn wir ehrlich sind: Die allermeisten – und nicht nur die Kinder – freuen sich darauf. Ich weiß natürlich, dass viele Menschen gerade an Weihnachten Sorgen haben und sich fürchten, allein zu sein, vergessen zu werden, im Unfrieden mit jemand zu sein.
Aber das Besondere an Weihnachten ist, dass es unsere Herzen öffnen kann. Dass es uns sagt:Gott macht einen neuen Anfang: mit uns, mit der Welt, immer wieder. Und den entscheidenden Anfang hat er mit Jesus gemacht.
Er wurde ein Mensch wie wir, um uns zu zeigen: die Hoffnung auf Güte und Menschenfreundlichkeit sind nicht vergebens; Hass und Menschenverachtung haben nicht das letzte Wort. Und vor allem, um uns Gott so zu zeigen, wie er ist: bedingungslose Liebe.
Weihnachten ist das Fest der Begegnung. Wir können Gott begegnen, in diesem Kind im Stall, in diesem zwölfjährigen, der schon die Menschen lehrt, wie Gott ist. Das Fest der Begegnung, auch unter uns. Untereinander! Martin Buber hat einmal gesagt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“(1) Wir können einander begegnen als geliebte Kinder Gottes, und wir können spüren: Auch mein Leben ist sinnvoll; auch ich kann für jemanden zur Hoffnung werden, zum Licht, zum Segen, auch wenn ich vielleicht selbst gar nicht weiß, für wen.
Die heilige Familie ist nichts anderes als die liebende Familie. Denn die Seele der Heiligkeit ist die Liebe, nichts sonst. Hier geht es nicht um eine Idealisierung der Familie, im Gegenteil. Aber Familien können und sollten Schulen der Menschlichkeit sein; der Ort, wo wir lernen, wie wir menschlich miteinander umgehen; wo wir lernen, füreinander da zu sein, uns zu kümmern und zu sorgen für die Anderen.
Ich glaube: Der Mensch Jesus hat das in dieser Familie gelernt. Denn wie anders ist es zu verstehen, wenn seine Mutter sich sorgt, weil er verschwunden ist, oder wenn es am Ende des Textes heißt, dass er an Weisheit zunahm.
Weisheit meint nicht, besonders viel zu wissen und zu können, sondern einschätzen zu lernen, was Not tut; was es heißt, Mensch zu sein, nämlich einander in Liebe verbunden zu sein. Gott wurde Mensch, damit wir wirklich menschlich werden. Genau das zeigt uns die Heilige Familie.
(Predigt zum Fest der Heiligen Familie, 28./29.12.2024, in Christkönig, Berlin-Lübars, Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf und St. Martin, Berlin-Wittenau)
Bild: Francisco „Kiko“ Argüello, Ikone der Heiligen Familie, 1997 (Foto: privat)
(1) Buber, Ich und Du. Stuttgart, 2021, S. 16.