Wozu Christ sein?

Mk 12, 28b–34

Zum Video

Man muss nicht Christ oder Christin sein, um ein anständiger Mensch zu sein. Im Gegenteil: Es gibt – gerade in unserer demokratischen und an fundamentalen Menschenrechten orientierten Gesellschaft – heute viel mehr Menschen, die mit Recht für sich in Anspruch nehmen würden, gute, anständige, rechtschaffene Leute zu sein und die gleichzeitig mit unserer traditionellen Form des Christseins nicht viel anfangen können.

Sie kennen vielleicht die Umfrage, die Studenten am Leipziger Hauptbahnhof vor einigen Jahren machten, wo sie Passanten die Frage stellten, ob sie einer Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören, und manche schlichtweg antworteten: „Nein, ich bin normal!“ (vgl. Reinhard Körner: Kirchisch für normale Menschen, Leipzig, Benno-Verlag, 2012, S.7)

Natürlich ist eine solche Aussage auch der Situation hier bei uns im Osten geschuldet, wo es eben mehrheitlich normal ist, konfessionslos zu sein, aber nicht nur im Osten Deutschlands gilt heute: Es ist keineswegs normal, Christ zu sein, eher das Gegenteil. Und hier in Berlin sowieso.

Wozu sind wir dann überhaupt Christinnen und Christen? Was ist der Sinn unseres Christsein?

Vor fast 57 Jahren, im Dezember 1964, hat der damalige Professor für Dogmatik an der Universität Münster, Joseph Ratzinger, drei Predigten zum Advent gehalten, die später auch als Buch erschienen sind. Das kleine Büchlein ist auch heute noch erhältlich. Es trägt den Titel: „Vom Sinn des Christseins“, und wenn ich einen Buchtipp geben darf, dann den: „Vom Sinn des Christseins“ von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (München, Kösel-Verlag, 2005). In diesen drei kurzen Predigten zeichnet er ein Bild seines Verständnisses, wozu wir überhaupt Christen sind; was der Sinn unseres Christseins ist; und er sagt: Der Sinn des Christseins kann gar nichts anderes sein als Christus selbst.

Jesus ist also nicht nur der Ursprung, der Anfang, meines Christseins; er ist auch mein Ziel, und zwar das einzige Ziel. Es gibt kein anderes. „Christus allein“, „solus christus“, könnte man mit unseren evangelischen Schwestern und Brüdern sagen. Nur um Christi willen sind wir also Christen. Und zwar, um so zu sein, wie Jesus, um den Weg zu gehen, den Jesus ging, um das zu tun, was er tat. Und welchen Weg ging er, was tat er? Ganz einfach: Das, was heute im Evangelium steht. Wenn da der Schriftgelehrte fragt, welches das erste Gebot von allen sei, und Jesus ihm mit dem traditionellen jüdischen Morgen- und Abendgebet, dem Schma Jisrael, antwortet, dann ist das auch der Kern unseres Christseins: „schəma jisrael adonai elohenu adonai echad“, Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige (Dtn 6,4). Liebe ihn mit deinem ganzen Herzen, mit ganzer Hingabe“. Und dann: „Liebe Deine Mitmenschen so, wie du dich liebst“ (Lev 19,18). Das ist das wichtigste Gebot für den Juden Jesus, aber es ist auch der Kern alles Christlichen. Denn das tut er. Das ist sein Weg. Kein anderer. Aber das ist nichts, was man sich nur an die Tür schreiben soll oder was man deklaratorisch vor sich herträgt. Nein, das wird sehr konkret, und das gilt dann für alles, was uns ausmacht, bis ins ganz Kleine, bis in den Alltag!

Denn das Wort „lieben“ heißt hier ja nicht, in romantische Gefühle auszubrechen; Schmetterlinge im Bauch und so. Das ist auch schön. Keine Frage! Aber hier ist doch von der Liebe die Rede, die wir für Gott empfinden, und von der Liebe zu allen unseren Mitmenschen. Das meint: Hingabe; das meint, für andere da zu sein; ganz da zu sein, und nicht nur mit Worten, die gut klingen, sondern ganz unmittelbar, im ganz Kleinen, Alltäglichen. Das ist das, was Jesus tut; sein Weg, und das gilt dann für uns als Christinnen und Christen, voll und ganz, immer.

Dann ist aber nicht egal, wie ich mein Leben führe, ob ich hier auf Kosten anderer lebe. Hauptsache mir geht’s gut! „Me first“ – könnte man sagen. Nein! Dann muss ich mir die Frage stellen: Bin ich nur für mich selbst da? Sind wir für uns selbst da? An dieser Frage entscheidet sich dann buchstäblich alles, das ganze Christsein.

Das gilt dann auch für die Kirche: Jetzt wurde der synodale Prozess eröffnet, mit dem Papst Franziskus die ganze Kirche auf die Bischofssynode in 2 Jahren vorbereiten will. Zur Eröffnung sagte der Papst: Wir wollen keine andere Kirche; aber wir wollen eine Kirche, die anders ist („diversa“, sagte er wörtlich, verschieden) (vgl.: https://www.vatican.va/content/francesco/it/speeches/2021/october/documents/20211009-apertura-camminosinodale.html.) Keine andere Kirche! Aber eine Kirche, die anders, verschieden, ist, wie der Papst sagt: eine Kirche, die die Perspektive wechselt; eine Kirche, die nicht für sich selbst da ist; eine Kirche, die gerade in Zeiten der Missbrauchsaufklärung auf eine sehr feinfühlige Weise versucht, den Menschen nahe zu sein; eine dienende Kirche.

Diese Kirche ist und bleibt natürlich die Kirche Jesu, aber sie besteht nun mal aus uns sehr menschlichen Mitgliedern; und wir können so sein oder anders; nur für uns selbst da sein oder für andere; exklusiv oder inklusiv; barmherzig oder unbarmherzig; zärtlich oder lieblos. Und zwar, wie gesagt, nicht nur theoretisch, sondern ganz konkret; im Alltag; im ganz Kleinen: für andere da sein; ihnen dienen; liebevoll und barmherzig. So dass Liebe und Barmherzigkeit zum Letztkritierium werden für alles, schlechthin alles; auch für unseren alltäglichen Umgang miteinander; auch innerhalb der Kirche.

Das ist die Konsequenz aus dem, was Jesus uns im Evangelium sagt. Das ist seine frohe Botschaft; das, wozu wir Christinnen und Christen sind.

 

(Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis B am 30.10.2021 in Christkönig, Berlin-Lübars, und am 31.10. in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf, und St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

Bild: privat

Schreibe einen Kommentar