Gottes Gerechtigkeit ist Barmherzigkeit

 

Evangelium

Ich muss gestehen, als ich jung war, konnte ich mit dieser Stelle im Matthäus-Evangelium nicht viel anfangen. Sie ging mir völlig gegen den Strich; denn natürlich ist das ungerecht, dass jeder denselben Lohn bekommen soll. So wird doch jeder denken, der diese Stelle zum ersten Mal hört. Die, die mehr gearbeitet haben, sollen auch mehr Lohn dafür bekommen. Leistung muss sich doch lohnen! Und dann der Schlusssatz: „also werden die Ersten Letzte sein und die Letzten Erste“. Soll das etwa heißen, diejenigen, die viel weniger leisten, sollen viel mehr bekommen? Das ist doch ungerecht.

So dachte ich, und es ist auch nicht falsch, so zu denken, wenn wir unsere gesellschaftlichen Maßstäbe der Gerechtigkeit anlegen. Aber Jesus erzählt seinen Jüngern und damit auch uns dieses Gleichnis bestimmt nicht, um die soziale Marktwirtschaft auszuhebeln. Ich glaube, unser Verständnis muss hier viel tiefer gehen.

Wir können dieses Gleichnis allegorisch verstehen. Der Gutsbesitzer ist Gott; die Arbeiter sind wir Menschen, oder zuerst die Jünger. Denn denen erzählt der Herr ja das Gleichnis, und unmittelbar vorher hatte Petrus Jesus gefragt: Wir haben alles verlassen, wie du wolltest; sind dir gefolgt; haben auf Einkommen verzichtet; und was bekommen wir nun dafür? Was ist unser Lohn? Und dann erzählt Jesus dieses Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.

In der Tradition der Kirche hat man daraus dann immer wieder geschlossen, es gehe hier um diejenigen, die früh zum Glauben gekommen sind, und die, die sich erst später bekehren, und alle bekommen sie von Gott den gleichen Lohn. Auch das stimmt sicher.

Denn Gott beschenkt alle gleich, und zwar mit dem, was wir brauchen. Wirklich brauchen!

Ein Denar, das war damals das, was einem zum Überleben gereicht hat – für einen Tag. Davon konnte man keine Reichtümer anhäufen. Man konnte nichts sparen. Aber man konnte davon leben. Es war das zum Überleben Notwendige. Es geht hier also nicht um soziale Gerechtigkeit und schon gar nicht um Leistungsgerechtigkeit. Gott schenkt uns das, was wir zum Leben brauchen. Und er schenkt es denen, die es früh verdient haben, genauso wie denen, die es eigentlich nicht so richtig verdienen. Also mir zum Beispiel. Er schenkt es allen, und zwar aus reiner Güte. „Oder bist du böse, weil ich gut bin“. fragt der Gutsbesitzer den missgünstigen Arbeiter. Gott ist reine Güte, und zwar völlig vorleistungsfrei. Denn Gottes Gerechtigkeit ist Barmherzigkeit. Das zeigt uns diese Erzählung.

Der frühere Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen und vormalige Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Kardinal Walter Kasper, hat ein Buch geschrieben. Es trägt den einfachen Titel: „Barmherzigkeit“. Das Buch ist nicht ganz neu, etwas über 10 Jahre alt, und als Papst Franziskus 2013 frisch gewählt worden war, hat er in seiner allerersten Ansprache auf dieses Buch verwiesen: Barmherzigkeit! Und dass das der Grundbegriff für das ganze Evangelium sei und der Schlüssel für unsere Existenz als Christen. Barmherzigkeit. Gottes Gerechtigkeit ist Barmherzigkeit, und wir alle sind auf Barmherzigkeit angewiesen – immer wieder und immer wieder neu.

Damit wir genau das verstehen, erzählt Jesus dieses Gleichnis. Damit wir uns, jede und jeder von uns, wie wir sind, in diesen Arbeitern erkennen. Gott schenkt jeder und jedem von seiner Güte – ausnahmslos.

Und wir?

Wir sollten es ebenso machen, und wir sollten – zumindest im Glauben und vor allem in der Kirche – aufhören mit unserer Leistungsfrömmigkeit. Wir alle kennen das ja: Diese Hoffnung: Wenn ich im Glauben viel leiste, belohnt Gott mich mehr, wenn ich fünf Rosenkränze bete und nicht nur einen, wenn ich jeden Tag mehrmals zur Kommunion gehe, wenn ich mich tiefer hinknie als andere. Da, wo ich herkomme, gibt es den Satz: „In Demut lasse ich mich von niemandem übertreffen.“ Dieses Gleichnis zeigt: So funktioniert das bei Gott nicht. Gott funktioniert so nicht. Er schenkt allen seine Güte und Barmherzigkeit, und er schenkt uns die Güter der Erde, damit wir sie miteinander teilen. Mit allen teilen! Und wenn es mir – unverdient – besser geht als anderen, dann sollte ich – gerade ich – beherzigen, dass auch ich nur ein solcher Arbeiter im Weinberg des Herrn bin, und dass Missgunst, also die Angst zu kurz zu kommen, die uns alle ja so oft umtreibt, dass das nun gänzlich dem widerspricht, was der Herr von mir erwartet.

Dieses Wissen befreit mich aus der Macht der Angst um mich selbst. Es befreit mich dazu, anderen gegenüber mindestens so großzügig zu sein, wie der Herr es zu mir ist.

 

(Predigt am Vorabend des 25. Sonntags im Jahreskreis A, 23.09.2023, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf und St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

Bild: privat

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