Jesus sieht uns

Evangelium

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Wieder so ein langes Evangelium – wie letzten Sonntag. Man könnte man viel dazu sagen. Hier nur ein Aspekt:

Wie letzten Sonntag geht es hier um eine Begegnung. Jesus begegnet diesem Menschen, der von Geburt an blind war. Letzten Sonntag war es die Frau, die ihren Durst stillen wollte. Die Frau kam da zum Brunnen, um Wasser zu holen, und Jesus sagt zu ihr, dass er ihr „lebendiges Wasser“ gibt, und von Anfang an ist klar, dass es da nicht nur ums biologische, ums chemische Wasser allein geht, sondern dass Leben, lebendig, hier mehr meint. Und heute also die Heilung dieses Blinden.

Man könnte jetzt schnell fertig sein und sagen: Ist halt wieder so eine von diesen Wundergeschichten: Jesus vollbringt ein medizinisches Wunder. Fertig! Wird er ja können, er ist ja Gottes Sohn.

Aber ist hier wirklich nur das Biologische gemeint, die optische Blindheit? Wenn wir unterstellen, dass das Evangelium kein medizinisches Bulletin ist und dass es hier nicht nur um die medizinische Sensation geht, sondern dass uns die Bibel hier – wie überall – Glaubenszeugnisse, Glaubenserfahrungen präsentiert, also das, was die Begegnung mit Jesus in Menschen auslöst, dann bekommt diese lange Heilungsgeschichte doch eine viel weitere Dimension:

Jesus begegnet diesem Menschen, und er sagt eigentlich fast gar nichts zu ihm: „Geh! – Wasch Dich!“ Mehr nicht. Erst in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern sagt er mehr, und dann am Schluss, wo es um den Glauben dieses Menschen geht, sein Vertrauen in den Menschensohn. Aber zuallererst sieht Jesus diesen blinden Menschen. Das ist das erste Wort, das hier steht. Er nimmt ihn wahr: einen Namenlosen, einen Bettler, einen Blinden. Ihm wendet er sich zu. So wie letzten Sonntag der namenlosen Frau am Brunnen. Also denjenigen, denen er sich schon, um kultisch rein zu bleiben, gerade nicht zuwenden dürfte.

Darum geht es hier doch zuallererst: Dass Jesus den Menschen in seiner Not wahrnimmt, ihn beachtet. Er sieht ihn an, und nichts (außer vielleicht Wasser und Brot) brauchen wir Menschen so sehr, wie angesehen zu werden; überhaupt gesehen, beachtet, zu werden. Deshalb ist uns unser Ansehen auch so wichtig; wie andere uns sehen, und ob sie uns überhaupt sehen. Und unsere ganze Kultur der sozialen Medien heute basiert ja letztlich nur auf unserer Sehnsucht, wahrgenommen zu werden. Dass es da jemanden gibt, der uns sieht, ansieht. Bedauerlicherweise ist dabei das Wahrgenommen-Werden so ein bisschen wie das Wasser aus dem Brunnen letzten Sonntag. Es lässt einen schnell wieder durstig werden.

Jesus nimmt uns wahr. So wie wir sind. Ohne dass wir uns verstellen müssen. Ohne dass wir uns besser machen müssen als wir sind. Ohne dass wir gierig nach mehr sein müssen. Ohne dass wir aus der Angst um uns selbst leben müssen. Er sieht uns in unserer Not. Und wie glücklich sind wir, wenn uns jemand ansieht. Ein ganz simples Beispiel: In der S-Bahn, wenn da jemand um Geld bettelt. Natürlich freut der sich übers Geld. Aber blicken Sie ihm mal in die Augen und lächeln ihn vielleicht an. Da erkennt man, wie gut es tut, überhaupt wahrgenommen, gesehen, beachtet zu werden.

Jesus nimmt uns wahr; jede und jeden von uns. Und nicht nur die Rechtgläubigen. Darum geht es ja den Pharisäern hier. Die fragen sofort nach der Schuld; wieso der überhaupt blind ist; muss ja jemand schuld sein, und dass es überhaupt nicht rechtens ist, dass Jesus diesem Menschen hier am Sabbat hilft.

Aber Jesus schert sich nicht um diese Rechtgläubigkeit. Er sieht zuerst den Menschen in seiner Not. Hier steht im griechischen Original übrigens jedes Mal „Mensch“, nicht Mann, wie in unserer Einheitsübersetzung. Den Menschen sieht Jesus.

Und wir? Gerade wir als Kirche müssen schon immer wieder aufpassen, dass wir nicht an unserer eigenen Rechtgläubigkeit ersticken, sondern hinsehen! Die Anderen sehen, wie Jesus sie sieht. Das müssen wir. Gerade die Opfer!

Ich habe 2010 und danach beruflich viel mit Missbrauchsopfern zu tun gehabt, und was ich da an schlimmstem Leid gehört habe, kriegt man nie wieder aus dem Kopf. Und was war diesen Menschen am wichtigsten? Nicht Geld! Sondern dass sie überhaupt jemand wahrnimmt; dass ihr Leid gesehen wird; dass sie sich nicht mehr verstellen müssen, sondern die Wahrheit ans Licht kommt. Überhaupt nur ans Licht kommt!

Jesus sieht uns. Er nimmt uns wahr, und er zeigt uns den Weg in die Freiheit, und ja, er kann uns heilen. Im Schlussgebet dieser Messe wird es nachher heißen: Heile die Blindheit unseres Herzens!“ Damit wir die Not unserer Mitmenschen sehen, sie ansehen, beachten und dann helfen. Denn nur der Dienst am Anderen „öffnet die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt“ (vgl. Benedikt XVI: Deus caritas est, 18).

(Predigt am 4. Fastensonntag, 19.3.2023, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

Bild: El Greco: Heilung des Blindgeborenen, ca. 1570 (Staatl. Kunstsammlungen Dresden)

(https://de.wikipedia.org/wiki/Heilung_eines_Blindgeborenen#/media/Datei:La_curacion_del_ciego_El_Greco_Dresde.jpg)

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