Jesus stirbt am Kreuz

Evangelium

Heute am Palmsonntag haben wir wieder das Evangelium vom Leiden und Sterben Christi gehört – diesmal nach dem Markus-Evangelium. Jedes Jahr, immer wieder, hören wir es: An Palmsonntag aus dem jeweiligen Lesejahr; am Karfreitag dann die Passion aus dem Johannes-Evangelium. Jedes Jahr, immer wieder! Da kann sich leicht das Gefühl einstellen: Habe ich schon x-mal gehört, kenne ich schon, immer das Gleiche. So als ob jedes Jahr immer wieder nur eine traurige historische Begebenheit vorgetragen wird von einem, der – wie so viele vor und nach ihm – einen grausamen und unwürdigen Tod gestorben ist; eine Geschichte, die halt vor 2000 Jahren passiert ist und die uns selbst eigentlich nichts angeht.

Aber das Evangelium ist kein Polizeiprotokoll, auch kein historischer Roman. Wenn ich die Bibel ernst nehmen will, muss ich mir doch immer diese eine Frage immer stellen: Hat das etwas mit mir zu tun? Habe ich hier wirklich nur eine Erzählung aus vergangenen Zeiten gehört oder will mir das Evangelium mehr sagen? Und geht mich an – auch heute noch, und nicht nur mich, sondern alle Menschen.

Die biblischen Texte wurden nicht geschrieben, um Nachrichten mitzuteilen. Sie sind Zeugnisse von Menschen, die ihren Glauben an diesen Jesus darlegen wollten, Glaubensvergewisserungen der jungen christlichen Gemeinden, um deutlich zu machen, wer Jesus für sie ist. Und deshalb hören wir hier nicht nur die Passion, sondern in der ersten Lesung, was bereits im Alten Testament auf Jesus voraus weist: Dass er derjenige ist, auf den die Juden seit Jahrhunderten warten: der Messias, der Befreier, der Retter, der die Erlösung bringt. Und deshalb hören wir in der zweiten Lesung, was Paulus den ersten Christen über Jesus mitgibt: Dass er derjenige ist, der Gott gleich war, aber einer von uns wurde, ein Mensch wie wir. Und deshalb müssen wir auch die Passion so hören: Als Zeugnis unseres Glaubens, wer Jesus für uns ist. Was er erduldet, ertragen, erlitten hat für uns, für alle Menschen aller Zeiten.

Und dann zeigt sich: Er ist kein König, kein Retter, kein Held, wie seine Jünger ihn vielleicht erhofft haben, der mit dem Schwert gegen die Besetzungsmacht der Römer kämpft. Er lässt sich gefangen nehmen, er hält das Leiden aus, ohne sich zu wehren, er vergibt seinen Peiniger sogar, weil das das vollkommende Werk der göttlichen Liebe ist, und nur diese Liebe dann in Ostern mündet, ins Leben, in die Auferstehung.

Wenn wir die Bibel ernst nehmen, müssen wir Christen die Leidensgeschichte immer von der Auferstehung her verstehen. Denn Jesus gerät – menschlich gesehen – in die äußerste Einsamkeit und Verlassenheit: Judas verrät ihn; bei seiner Festnahme fliehen die anderen Jünger; Petrus verleugnet ihn, und am Kreuz fühlt er sich von Gott verlassen und schreit es heraus mit den Worten des Psalms 22: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Menschlich gesehen ein komplettes Scheitern; alles zu Ende, alles umsonst! Doch wir können, wie schon der römischen Hauptmann, tiefer blicken und glaubend bekennen: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn” (Mk 15,39).

Gerade in dieser Hingabe, in dieser Verletzlichkeit, erweist er sich als Gottes Sohn. Am Kreuz stirbt nicht einfach nur ein toller, aber letztlich gescheiterter Mensch. Am Kreuz geht Gott selbst für uns mit in die tiefste Verlassenheit, die tiefste Qual, den tiefsten Abgrund. Und wenn es dabei bleiben würde, bei diesem Tod, bei diesem Ende, dann wäre wirklich alles aus: Für ihn, für uns, für die ganze Menschheit. Aber wir wissen: Das ist erst der Anfang.

Christus geht in seiner Liebe, seiner Hingabe, seiner Verletzlichkeit bis zum Kreuz, bis in den Tod, damit wir die Angst überwinden können. Er befreit uns aus der Macht der Angst um uns selbst, der Angst vor dem Leben, der Angst vor dem Sterben.

Mit seinen weit ausgebreiteten Armen umspannt er gewissermaßen die ganze Welt. Jede und jeder von uns wird von dieser göttlichen Barmherzigkeit umspannt, der nichts zu schwer oder zu groß ist, aber eben auch nichts zu klein, zu unwichtig, zu unwürdig. Gott breitet am Kreuz seine Hände aus, um die äußersten Enden des Universums zu umarmen. So wird der Berg Golgotha der Angelpunkt der Welt.

(Predigt in der Wort-Gottes-Feier zum Vorabend von Palmsonntag, Lesejahr B, 23.3.2024, in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

Bild: Diego Velázquez: Gekreuzigter Christus, um 1630, Prado Madrid,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cristo_crucificado.jpg

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