Der Lazarus vor meiner Tür

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Evangelium

Dieses Evangelium heute ist, finde ich, zutiefst erschreckend, denn es stellt mir unmissverständlich vor Augen, was mich erwartet. Der da vor der Tür des Reichen liegt, hat einen Namen: Lazarus. Der Reiche weiß also nicht nur, dass da jemand vor seiner Tür liegt, er kennt sogar seinen Namen. Das ist nicht irgendeine abstrakte Not. Hier wird Not ganz konkret. In der abstrakten Not kann ich mir immer sagen:

„Du bist nicht verantwortlich für das Elend in der Welt, für Missernten und Hungersnöte.
Du bist nicht verantwortlich für Kriege unter den Völkern, für Verrohung und Aggression.
Doch wie behandelst du den Lazarus direkt vor deiner Tür?
Du bist nicht verantwortlich für Ungerechtigkeit und Unterdrückung, für Ausbeutung und Diskriminierung.
Doch wie achtest du den Lazarus direkt vor deiner Tür?
Du bist nicht verantwortlich für Arbeitslosigkeit und Armut, für Verwahrlosung und Obdachlosigkeit.
Doch was tust du für den Lazarus direkt vor deiner Tür?“
(Gisela Baltes: Dein Wort – mein Leben. Impulse zur Bibel. Kevelaer, 2011, S. 71)

Diese Fragen müssen gerade wir Christen uns stellen. Denn auch vor der Tür unseres Lebens begegnen wir oft genug einem Lazarus, und das muss gar kein Hungernder oder Aussätziger oder Bettler sein. Armut heute kann ganz andere Formen haben:

Da sind zum Beispiel
– diejenigen unter den junge Menschen, die nichts mit sich und der Welt anzufangen wissen, die nichts außer Betäubung durch Medien, durch Rausch, durch schnellen Sex kennen, um vor ihrer Einsamkeit zu fliehen, oder
– diejenigen unter den Alten, die niemand anspricht, die niemand in den Arm nimmt, die am besten übersehen werden, weil sie nur noch nerven, und die zutiefst allein gelassen und einsam sind in ihrer Traurigkeit und Angst vor dem Ende, oder
– die vielen Kranken oder Sterbenden, die sich abgeschoben fühlen in Heime, in Krankenhäuser, weil man sich dort ja besser um sie kümmert, und die niemanden haben, der ihnen die Hand hält beim Sterben; oder
– beispielsweise die Menschen, die samstags Schlange stehen bei den Tafeln und die wissen, dass sie nur noch die Reste kriegen, weil sie nicht schnell genug sind und nicht die nötigen Ellenbogen haben, um sich nach vorne durchzuschlagen.

Das Problem ist nicht, dass wir es nicht wüssten. Natürlich wissen wir es. Aber genauso wie der Reiche sehen wir die vielen Lazarus-Personen nicht. Und tief im Innern wissen wir sogar: Mein Wohlstand ist ja erkauft auf dem Rücken von Armen.

Die Jeans, die ich trage, wurde in Bangladesch oder China vielleicht von Kindern, vielleicht sogar unter menschenunwürdigen Umständen hergestellt, aber auf alle Fälle zu Billiglöhnen. Und das ist ja gar nichts Neues. Das gab es schon immer. Basilius v. Cäsaräa schrieb bereits im 4. Jahrhundert:

Dem Hungrigen gehört das Brot, das du zurückhältst, dem Nackten das Kleidungsstück, das du im Schrank verwahrst, dem Barfüßigen der Schuh, der bei dir verfault, dem Bedürftigen das Silber, das du vergraben hast. Aber du bist mürrisch und unzugänglich, du gehst jeder Begegnung mit einem Armen aus dem Weg, damit du nicht genötigt wirst, auch nur ein Weniges abzugeben. Du kennst nur die eine Rede: Ich habe nichts und kann nichts geben, denn ich bin arm. Ja, arm bist du wirklich: arm an Liebe, arm an Gottesglauben, arm an ewiger Hoffnung.“ (zit. nach: https://www.erzabtei-beuron.de/_SA-mobile/schott/register/jahreskreis/schott_anz/index.html?file=jk26%2FSonntagC.htm)

Und genau darum geht es Jesu: Wir müssen liebesfähig werden. Wir brauchen ein „sehendes Herz, ein Herz, das sieht, wo Liebe Not tut und danach handelt.“ (Benedikt XVI., s.u.) Denn die Schuld des Reichen ist ja nicht, dass er reich ist, sondern, dass er arm an Liebe ist!

Jesus will nur eins von mir: „Ich muss ein Liebender werden, einer, dessen Herz der Erschütterung durch die Not des anderen offensteht. Dann nur dann finde ich meinen Nächsten, oder besser: dann werde ich von ihm gefunden.“ (Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. B. 2007, S. 237)

Nur das! Denn das Gegenteil davon, das wurde uns ja eben im Evangelium gezeigt: Lieblosigkeit. Ganz simple, konkrete Lieblosigkeit. Und Lieblosigkeit ist die einzige Sünde, die bleibt.

Was der Reiche da am Ende erlebt, ist die Hölle schlechthin. Nämlich: Lieblosigkeit! Etwas, was der arme Lazarus sein Leben lang ertragen musste. Übrigens wirklich die Hölle! Zumindest hat Dostowejski sie genauso in den „Brüdern Karamasow“ beschrieben:

Dort fragt einer der Brüder einen weisen Mann, was denn die Hölle sei, und der antwortet, zu sterben und genau zu wissen, dass man nicht genug geliebt hat, und nie mehr Gelegenheit hat, das zu ändern. Das ist die Hölle.

Die Bilder dieses Evangeliums beschreiben die Wirklichkeit; als Bilder zwar, aber sie beschreiben die Wirklichkeit. Jesus will nur eins, dass wir liebesfähig werden. Denn nur so gehen wir seinen Weg mit und gelangen zu dem Ziel, das er für uns will.

 

(Predigt am 26. Sonntag im Jahreskreis C, 24./25.9.2022, in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf, und St. Hildegard, Berlin-Frohnau)

Bild: privat

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